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An Felice Bauer
Auch am Sonntag, Felice, an einem schönen stillen grauen Sonntag.
Nur ich und der Kanarienvogel sind wach in der Wohnung. Ich bin hier bei
den Eltern. In meinem Zimmer allerdings, dort lärmt wahrscheinlich
die Hölle, hinter der rechten Wand werden scheinbar Baumstämme
abgelagert, man hört, wie der Stamm im Wagen gelockert wird, dann
wird er gehoben, er seufzt wie etwas Lebendiges, dann ein Krach, er fällt
und die Resonanz des ganzen verfluchten Betonhauses nimmt sich seiner an.
Über dem Zimmer auf dem Boden schnurrt die Maschinerie des Aufzugs
und hallt durch die leeren Bodenräume. (Das ist das frühere vermeintliche
Ateliergespenst, es gibt aber dort auch Dienstmädchen, die beim Wäschetrocknen
mit ihren Pantoffeln förmlich meine Schädeldecke abtasten.) Unter
mir ist ein Kinder- und Gesellschaftszimmer, bei Tag schreien und laufen
die Kinder, immer wieder flötet irgendwo eine Tür, die aufgerissen
wird, das Kindermädchen will ihrerseits durch Schreien Ruhe erzwingen,
am Abend schwatzen die Erwachsenen durcheinander, als hätten sie unten
jeden Tag ein Fest. Aber um 10 Uhr ist es zuende, wenigstens bis jetzt,
manchmal war schon um 9 Ruhe und wenn dann meine Nerven dazu noch imstande
sind, können sie eine wunderbare Ruhe genießen.
Für den Tageslärm habe ich mir aus Berlin-ich muß immer
wieder auf Berlin zurückgreifen - eine Hilfe kommen lassen, Ohropax,
eine Art Wachs von Watte umwickelt. Es ist zwar ein wenig schmierig, auch
ist es lästig, sich schon bei Lebzeiten die Ohren zu verstopfen, es
hält den Lärm auch nicht ab, sondern dämpft ihn bloß
- immerhin. Im Strindbergroman "Am offenen Meer", den ich vor
paar Tagen gelesen habe - es ist eine Herrlichkeit, kennst Du ihn? -, hat
der Held für ein ähnliches Leid, wie ich es habe, sogenannte
Schlafkugeln, die er in Deutschland gekauft hat, Stahlkügelchen, die
man ins Ohr rollen läßt. Es scheint aber leider nur eine Strindbergische
Erfindung zu sein.
Ob ich durch den Krieg leide? Was man durch den Krieg an sich erfährt;
das kann man im wesentlichen noch gar nicht wissen. Äußerlich
leide ich durch ihn, weil unsere Fabrik zugrunde geht, wie ich mehr ahne
als weiß, denn ich war schon einen Monat lang nicht dort. Der Bruder
meines Schwagers wird hier ausgebildet und kann sich also vorläufig
noch ein wenig darum kümmern. Der Bruder [Mann] meiner
ältern Schwesterist in den Karpathen beim Train und wohl nicht
in unmittelbarer Gefahr, der Mann mein er andern Schwester war, wie Du
weißt, verwundet, war dann paar Tage in der Front, ist mit Ischias
zurückgekommen und wird jetzt in Teplitz kurierte. Außerdem
leide ich am Krieg meistens dadurch, dass ich nicht selbst dort bin.
Aber das sieht, so glattweg niedergeschrieben, fast nur dumm aus. Übrigens
ist es vielleicht nicht ausgeschlossen, dass ich noch darankomme.
Mich freiwillig zu melden, hindert mich manches Entscheidende, zum Teil
allerdings auch das, was mich überall hindert.
Auch das, was uns, F., hindert, in Prag zu leben, so gut die Bedingungen
hier sind und so erstrebenswert sie vielleicht auch in paar Jahren im Rückblick
scheinen werden. Ich bin hier nicht am Platze, und zwar kämpfe ich
hier nicht gegen die Umgebung (wenn es so wäre, dann gäbe es
keine liebere und bessere Hilfe, als die Deine), ich kämpfe nur gegen
mich selbst und in solchen Kampf Dich mit hinunterzuziehn, das darf ich
um unser beider willen nicht tun, es hat sich fast augenblicklich bestraft,
als ich es in Verblendung wollte. Ehe man das Recht auf einen Menschen
fühlt und hat, muß man entweder weiter gekommen sein als ich
oder den Weg, den ich meinen Kräften suche, gar nicht machen. In Prag
aber scheine ich in meinen Verhältnissen gar nicht weiter kommen zu
können.
Bemerkung über das Geld scheinst Du mißverstanden zu haben.
Es ist eine monatliche Gehaltserhöhung um 100 K, die mir, was ihre
Verwendung anlangt, natürlich keine Sorgen macht. Denke nur, ich hafte
ja mit allem, was ich habe, für die Fabrik. Meine Unzufriedenheit
bezog sich darauf, dass durch dieses Geld die Grube, in der ich sitze,
wieder ein wenig tiefer gegraben wird.
Von Dir schreibst Du so wenig, F. Was Du arbeitest, ob Du weniger Arbeit
hast als früher, was die neue Stellung bedeutet, mit wem Du verkehrst,
warten Du am Sonntag, nachmittag allein zuhause sitzt, was Du liest, ob
Du ins Theater gehst, ob Dein Gehalt nicht verringert ist, wie Du Dich
kleidest (in Bodenbach war es sehr schön, das Jäckchen), wie
Du zu Erna stehst - von dem allen höre ich nichts und es gehört
doch sehr in meinen Gedankenkreis. Und Dein Bruder? Und Dein Schwager?
Noch eines: Über den Verlust der Wohnung, die mir gegenüber ist,
müssen wir nicht trauern. Eine Wohnung ohne Aussicht (mein Zimmer
dagegen hat weite Aussicht nach zwei Seiten, das ist allerdings ohne nähere
Beschreibung schwer zu begreifen), in der eine Frau mit einer Tochter wohnt,
von welcher letztern mir nur eine giftig gelbe Bluse, Wangenbehaarung und
Watschelgang erinnerlich sind. Die Wohnung darf man verloren geben.
Herzlich Franz
Bruder [Mann] meiner ältern Schwester: Kafkas
Schwager Karl Hermann, der Mann seiner Schwester Elli, war als Soldat in
den ungarischen Karpathen; sein Schwager Josef Pollak, der Mann 'seiner
Schwester Valli, war leicht verwundet worden.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at