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An Felice Bauer

[Stempel: Prag - 5. IV. 15]
 


Auch am Sonntag, Felice, an einem schönen stillen grauen Sonntag. Nur ich und der Kanarienvogel sind wach in der Wohnung. Ich bin hier bei den Eltern. In meinem Zimmer allerdings, dort lärmt wahrscheinlich die Hölle, hinter der rechten Wand werden scheinbar Baumstämme abgelagert, man hört, wie der Stamm im Wagen gelockert wird, dann wird er gehoben, er seufzt wie etwas Lebendiges, dann ein Krach, er fällt und die Resonanz des ganzen verfluchten Betonhauses nimmt sich seiner an. Über dem Zimmer auf dem Boden schnurrt die Maschinerie des Aufzugs und hallt durch die leeren Bodenräume. (Das ist das frühere vermeintliche Ateliergespenst, es gibt aber dort auch Dienstmädchen, die beim Wäschetrocknen mit ihren Pantoffeln förmlich meine Schädeldecke abtasten.) Unter mir ist ein Kinder- und Gesellschaftszimmer, bei Tag schreien und laufen die Kinder, immer wieder flötet irgendwo eine Tür, die aufgerissen wird, das Kindermädchen will ihrerseits durch Schreien Ruhe erzwingen, am Abend schwatzen die Erwachsenen durcheinander, als hätten sie unten jeden Tag ein Fest. Aber um 10 Uhr ist es zuende, wenigstens bis jetzt, manchmal war schon um 9 Ruhe und wenn dann meine Nerven dazu noch imstande sind, können sie eine wunderbare Ruhe genießen.

Für den Tageslärm habe ich mir aus Berlin-ich muß immer wieder auf Berlin zurückgreifen - eine Hilfe kommen lassen, Ohropax, eine Art Wachs von Watte umwickelt. Es ist zwar ein wenig schmierig, auch ist es lästig, sich schon bei Lebzeiten die Ohren zu verstopfen, es hält den Lärm auch nicht ab, sondern dämpft ihn bloß - immerhin. Im Strindbergroman "Am offenen Meer", den ich vor paar Tagen gelesen habe - es ist eine Herrlichkeit, kennst Du ihn? -, hat der Held für ein ähnliches Leid, wie ich es habe, sogenannte Schlafkugeln, die er in Deutschland gekauft hat, Stahlkügelchen, die man ins Ohr rollen läßt. Es scheint aber leider nur eine Strindbergische Erfindung zu sein.

Ob ich durch den Krieg leide? Was man durch den Krieg an sich erfährt; das kann man im wesentlichen noch gar nicht wissen. Äußerlich leide ich durch ihn, weil unsere Fabrik zugrunde geht, wie ich mehr ahne als weiß, denn ich war schon einen Monat lang nicht dort. Der Bruder meines Schwagers wird hier ausgebildet und kann sich also vorläufig noch ein wenig darum kümmern. Der Bruder [Mann] meiner ältern Schwesterist in den Karpathen beim Train und wohl nicht in unmittelbarer Gefahr, der Mann mein er andern Schwester war, wie Du weißt, verwundet, war dann paar Tage in der Front, ist mit Ischias zurückgekommen und wird jetzt in Teplitz kurierte. Außerdem leide ich am Krieg meistens dadurch, dass ich nicht selbst dort bin. Aber das sieht, so glattweg niedergeschrieben, fast nur dumm aus. Übrigens ist es vielleicht nicht ausgeschlossen, dass ich noch darankomme. Mich freiwillig zu melden, hindert mich manches Entscheidende, zum Teil allerdings auch das, was mich überall hindert.

Auch das, was uns, F., hindert, in Prag zu leben, so gut die Bedingungen hier sind und so erstrebenswert sie vielleicht auch in paar Jahren im Rückblick scheinen werden. Ich bin hier nicht am Platze, und zwar kämpfe ich hier nicht gegen die Umgebung (wenn es so wäre, dann gäbe es keine liebere und bessere Hilfe, als die Deine), ich kämpfe nur gegen mich selbst und in solchen Kampf Dich mit hinunterzuziehn, das darf ich um unser beider willen nicht tun, es hat sich fast augenblicklich bestraft, als ich es in Verblendung wollte. Ehe man das Recht auf einen Menschen fühlt und hat, muß man entweder weiter gekommen sein als ich oder den Weg, den ich meinen Kräften suche, gar nicht machen. In Prag aber scheine ich in meinen Verhältnissen gar nicht weiter kommen zu können.

Bemerkung über das Geld scheinst Du mißverstanden zu haben. Es ist eine monatliche Gehaltserhöhung um 100 K, die mir, was ihre Verwendung anlangt, natürlich keine Sorgen macht. Denke nur, ich hafte ja mit allem, was ich habe, für die Fabrik. Meine Unzufriedenheit bezog sich darauf, dass durch dieses Geld die Grube, in der ich sitze, wieder ein wenig tiefer gegraben wird.

Von Dir schreibst Du so wenig, F. Was Du arbeitest, ob Du weniger Arbeit hast als früher, was die neue Stellung bedeutet, mit wem Du verkehrst, warten Du am Sonntag, nachmittag allein zuhause sitzt, was Du liest, ob Du ins Theater gehst, ob Dein Gehalt nicht verringert ist, wie Du Dich kleidest (in Bodenbach war es sehr schön, das Jäckchen), wie Du zu Erna stehst - von dem allen höre ich nichts und es gehört doch sehr in meinen Gedankenkreis. Und Dein Bruder? Und Dein Schwager?

Noch eines: Über den Verlust der Wohnung, die mir gegenüber ist, müssen wir nicht trauern. Eine Wohnung ohne Aussicht (mein Zimmer dagegen hat weite Aussicht nach zwei Seiten, das ist allerdings ohne nähere Beschreibung schwer zu begreifen), in der eine Frau mit einer Tochter wohnt, von welcher letztern mir nur eine giftig gelbe Bluse, Wangenbehaarung und Watschelgang erinnerlich sind. Die Wohnung darf man verloren geben.

Herzlich Franz




Bruder [Mann] meiner ältern Schwester: Kafkas Schwager Karl Hermann, der Mann seiner Schwester Elli, war als Soldat in den ungarischen Karpathen; sein Schwager Josef Pollak, der Mann 'seiner Schwester Valli, war leicht verwundet worden.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at