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An Felice Bauer

[21.März 1915] [Ankunftsstempel: Berlin - 23.3.15]
 


Noch keine Nachricht, F., und es dauert schon lange. Wie beginnst Du das Frühjahr? Ich habe heute nach langer Zeit einen Spaziergang gemacht, es ist nämlich Sonntag und gutes Wetter, einer jener Augenblicke, wo die Anordnung im Gerichtssaal sich ändert, die lächerlichsten Verschiebungen vorgenommen werden, wo man glaubt, sehr gut behandelt worden zu sein und alle Rechnungen trotz zweifelloser, in die Augen schlagender Unrichtigkeiten stimmen. Dieses Gefühl ist aber an einem falschen Platz, es ist zumindest eine überflüssige Anhäufung, an diesem Vormittag brauchte ich es nicht, wohl aber gestern und vorgestern und sofort, wo ich vormittag den schmerzenden Kopf förmlich in den Händen drehte, denn ihn sich selbst zu überlassen schien unmöglich. Der heutige Vormittag gleicht das vielleicht aus, aber gestern wußte ich das nicht und morgen habe ich es vergessen.

Seid Ihr schon übersiedelt? Ich bin übersiedelt, in ein Zimmer, in dem der Lärm etwa zehnmal größer ist als in dem frühem, das aber im übrigen unvergleichlich schöner ist. Ich dachte unabhängig von der Lage und dem Aussehn des Zimmers zu sein. Aber das bin ich nicht. Ohne freiere Aussicht, ohne die Möglichkeit, ein großes Stück Himmel aus dem Fenster zu sehn und etwa einen Turm in der Ferne, wenn es schon nicht freies Land sein kann, ohne dieses bin ich ein elender, gedrückter Mensch, ich kann zwar nicht angeben, was für ein Teil des Elends dem Zimmer anzurechnen ist, aber es kann nicht wenig sein; ich habe in dem Zimmer sogar Morgensonne, und da ringsherum viel niedrigere Dächer sind, kommt sie voll und geradewegs zu mir. Ich habe aber nicht nur Morgensonne, denn es ist ein Eckzimmer und zwei Fenster gehn nach Südwesten. Damit ich aber nicht übermütig werde, trampelt über mir in einem (leeren, nichtvermieteten!!) Atelier bis abend jemand mit schweren Stiefeln hin und her und hat dort irgendeinen im übrigen zwecklosen Lärmapparat aufgestellt, der die Illusion eines Kegelspiels erzeugt. Eine schwere Kugel rollt schnell geschoben über die ganze Länge der Zimmerdecke, trifft in der Ecke auf und rollt schwerfällig krachend zurück. Die Dame, von der ich das Zimmer gemietet habe, hört es zwar auch, versucht aber, weil man für einen Mieter nichts unversucht läßt, den Lärm logisch zu negieren, indem sie darauf hinweist, dass das Atelier unvermietet und leer ist. Worauf ich nur antworten kann, dass dieser Lärm nicht die einzige grundlose und deshalb eben nicht zu beseitigende Quälerei in der Welt ist.

Übrigens wohne ich nicht etwa auf dem Land, denn, wenn ich auf meinem Balkon stehe, sehe ich jener Wohnung fast in die Fenster, deren Pläne Du und ich einmal studiert haben. Auch diese Wohnung hatte heute Morgensonne in allen 3 Gassenfenstern. Ich wußte nicht, was ich zu den Fenstern sagen sollte. Was hättest Du gesagt? Ich sehe die Fenster auch am Abend, gewöhnlich sind alle 3 beleuchtet, allerdings nicht so lange wie meines. Ich lebe ganz allein, bin jeden Abend zuhause, war schon einen Monat lang nicht bei den Samstagabenden, war aber schon 2 Monate unfähig zu jeder erträglichen Arbeit. Jetzt ist aber genug von mir geredet. Nun von Dir!

Herzlichst F.




Samstagabenden: Die wöchentliche Zusammenkunft der Freunde Brod, Weltsch und Baum, an der Kafka sonst teilnahm. Vgl. Anm.2 S.122.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at