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An Felice Bauer

25.I.15
 


Soll ich zusammenfassen, F.? Zunächst eine ebenso unmittelbare als alte Beobachtung. Ich setze die Feder an und bin Dir nahe, bin Dir näher, als wenn ich bei dem Kanapee stehe. Hier wirfst Du mich nicht um, hier weichst Du meinen Augen nicht aus, meinen Gedanken nicht aus, meinen Fragen nicht aus und selbst dann nicht, wenn Du schweigst. Sind wir hier etwa in der Wohnung auf dem Dachboden mit der Kirchturmuhr als Standuhr? Möglich.

Wir haben festgestellt, dass wir keine gute Zeit miteinander verbracht haben. Und das ist noch hochtrabend gesprochen. Vielleicht haben wir keine vollständig freie Minute miteinander verbracht. Ich erinnere mich an Weihnachten 1912. Max war in Berlin und glaubte Dich auf einen grausigen Brief vorbereiten zu müssen, der Dir drohte. Du versprachst, tapfer zu bleiben, aber sagtest etwa folgendes: "Es ist so merkwürdig, wir schreiben einander, regelmäßig und sehr oft, ich habe schon viele Briefe von ihm, ich möchte ihm gern helfen, aber es ist so schwer, er macht es mir so schwer, wir kommen einander nicht näher." Dabei - versteh mich recht - ist es ja fast geblieben, für beide. Der eine erkennt es früher, der andere später, der eine vergißt es in dem Augenblick, als sich der andere daran erinnert. Aber es wäre ja leichte Abhilfe, sollte man glauben. Kann man nicht näher kommen, geht man weiter weg. Aber das ist nun auch wieder nicht möglich. Der Wegzeiger zeigt nur die eine Richtung.

Das ist die erste Erbarmungslosigkeit. Die zweite liegt in uns beiden. Ich habe gefunden, wir sind beide erbarmungslos gegen ein[an]der; nicht etwa weil dem einen zu wenig an dem andern liegen würde, aber erbarmungslos sind wir. Du wahrscheinlich ganz unschuldig, daher ohne Schuldgefühl, also auch das Leid dieses Gefühls. Bei mir ist es anders. Ein Unglück ist es vielleicht, dass ich nicht streiten kann, ich erwarte etwa förmlich ein Aufblühn der Überzeugung, nach der ich verlange, von innen her, und gebe mir keine Mühe, auf dem geraden Wege zu überzeugen oder vielmehr ich gebe mir Mühe, aber es ist gar nicht zu merken, so groß ist meine Unfähigkeit darin. Darum haben wir keinen äußerlichen Streit, wir gehn friedlich nebeneinander her, aber unterdessen zuckt es zwischen uns, als ob jemand unaufhörlich die Luft zwischen uns mit einem Säbel zerschneiden würde. Um es nicht zu vergessen: Auch Du streitest nicht, auch Du duldest, und dieses Dulden ist vielleicht zum Ausgleich, da es doch auch unschuldig ist, viel schwerer als meines.

Und nun geschieht natürlich das, was ich genau vorhersah. Ich fuhr nicht freiwillig hin, ich wußte, was mir drohte. Mir drohte die Verlockung der Nähe, diese unsinnige Verlockung, die mir förmlich im Genick sitzt und selbst in diesem Eiszimmer nicht von mir abläßt. Du warst vormittag bei der Bank, auf der die zwei Taschen lagen, und Du standest nachmittag vor den paar Stufen, die zum Kaffeehaus führten. Daran zu denken ist fast unerträglich, trotz der vielen und harten Denkübungen der letzten Jahre. Ich weiß nicht, wie ich damit bei der Arbeit durchkommen werde, aber es muß doch sein.

Ich werde Dir nur wenig schreiben, die Briefe gehn so langsam, man schreibt auch nicht so frei wie sonst, ich werde Dich auch nicht wieder mit Bitten zum Briefschreiben drängen, wir haben mit Briefen wenig erreicht, wir müssen es auf andere Weise zu erreichen suchen. Ich werde mir vielleicht doch wieder, so unmöglich es jetzt scheint, die Nachmittage zur Arbeit verschaffen können, werde es jedenfalls versuchen. Und diese Arbeit gilt doch in gewissem Sinn Dir, trotzdem z. B. irgendein Teufel Dich zu der Bemerkung gezwungen hat, ich solle versuchen, etwas aus der Fabrik zu machen. Warum verstehst Du die Fabrik besser als mich!

Genug; ich habe noch viel zu tun. Die Hausmeisterin ist krank und ich muß das Bett, das ich früh zerworfen habe, jetzt wieder in Ordnung bringen. Auch auskehren und Staub abwischen sollte ich, aber da das auch die Hausmeisterin fast immer versäumt, ist es auch heute nicht dringend. Wenn Du mich früh - die Hausmeisterin wird mich auch voraussichtlich nicht wecken - durch einen guten freundlichen Traum rechtzeitig etwa um ½8 wecken wolltest, so wäre das sehr lieb. Richte es aber womöglich so ein, dass der Traum, ehe er mich weckt, richtig abläuft bis zum wahren guten Ende, das uns beiden irgendwo bereitet sein möge.


Viele Grüße Franz


[Am Rande] Das Buch von Werfel habe ich Dir geschickt.




25.I.15: Am 23. und 24. Januar 1915, einem Wochenende, trafen Kafka und Felice einander in Bodenbach, der auf der böhmischen Seite liegenden Grenzstadt an der Eisenbahnstrecke Berlin-Prag. Wie es zu dieser Verabredung kam. ist aus den erhaltenen Briefen nicht ersichtlich. Während des gemeinsamen Aufenthalts in Bodenbach las Kafka ihr aus Dichtungen vor, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1914 entstanden waren, darunter auch die Türhüterlegende "Vor dem Gesetz", die am 9. September desselben Jahres in der Prager Selbstwehr zum ersten Mal im Druck erschien. Vgl. Tagebücher (24. Januar 1915), S. 459ff.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at