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[Tagebuch, 30. Juli 1914; Donnerstag]

30. (Juli 1914) Ich hatte, müde des Dienens in fremden Geschäften, ein eigenes kleines Papiergeschäft eröffnet. Da meine Mittel nur klein waren und ich fast alles bar bezahlen mußte

Ich suchte Rat. Ich war nicht eigensinnig. Es war nicht Eigensinn, wenn ich jemanden, der mir ohne es zu wissen etwas riet, still mit krampfhaft verzogenem Gesicht und von Hitze glänzenden Wangen anlachte. Es war Spannung, Aufnahmebereitschaft, krankhaftes Fehlen des Eigensinns.

Der Direktor der Versicherungsgesellschaft "Fortschritt" war immer mit seinen Beamten äußerst unzufrieden. Nun ist jeder Direktor mit seinen Beamten unzufrieden, der Unterschied zwischen Beamten und Direktoren ist zu groß als dass er sich durch bloße Befehle von Seiten des Direktors und durch bloßes Gehorchen von seite der Beamten ausgleichen ließe. Erst der beiderseitige Haß bewirkt den Ausgleich und rundet das ganze Unternehmen ab.

Bauz, der Direktor der Versicherungsgesellschaft Fortschritt, sah den Mann, der vor seinem Schreibtisch stand und sich um eine Dienerstelle bei der Gesellschaft bewarb, zweifelnd an. Hie und da las er auch in den Papieren des Mannes, die vor ihm auf dem Tische lagen. "Lang sind Sie ja" sagte er "das sieht man, aber was sind Sie sonst? Bei uns müssen die Diener mehr können, als Marken lecken und gerade das müssen Sie nicht können, weil solche Sachen bei uns automatisch gemacht werden. Bei uns sind die Diener halbe Beamte, sie haben verantwortungsvolle Arbeit zu leisten, fühlen Sie sich dem gewachsen. Sie haben eine eigentümliche Kopfbildung. Wie Ihre Stirn zurücktritt. Sonderbar! Welches war denn Ihr letzter Posten? Wie? Sie haben seit einem Jahr nichts gearbeitet? Warum denn? Wegen Lungenentzündung? So?. Nun, das ist nicht sehr empfehlend, wie? Wir können natürlich nur gesunde Leute brauchen. Ehe Sie aufgenommen werden, müssen Sie vom Arzt untersucht werden. Sie sind schon gesund? So? Gewiß, das ist ja möglich. Wenn Sie nur lauter reden würden! Sie machen mich ganz nervös mit Ihrem Lispeln. Hier sehe ich auch, dass Sie verheiratet sind vier Kinder haben. Und seit einem Jahr haben Sie nichts gearbeitet! Ja, Mensch! Ihre Frau ist Wäscherin? So! Nun ja. Da Sie jetzt schon einmal hier sind, lassen Sie sich gleich vom Arzt untersuchen, der Diener wird Sie hinführen. Daraus dürfen Sie aber nicht schließen, dass Sie angenommen werden, selbst wenn das Gutachten des Arztes günstig ist. Durchaus nicht. Eine schriftliche Verständigung bekommen Sie jedenfalls. Um aufrichtig zu sein, will ich Ihnen gleich sagen: Sie gefallen mir gar nicht. Wir brauchen ganz andere Diener. Lassen Sie sich aber jedenfalls untersuchen. Gehn Sie nur schon, gehn Sie. Hier hilft kein Bitten. Ich bin nicht berechtigt Gnaden auszuteilen. Sie wollen jede Arbeit leisten. Gewiß. Das will jeder. Das ist keine besondere Auszeichnung. Es zeigt nur wie tief Sie sich einschätzen. Und nun sage ich zum letzten Mal: Gehn Sie und halten Sie mich nicht länger auf. Es ist wahrhaftig genug. " Banz mußte mit der Hand auf den Tisch schlagen, ehe der Mann sich vom Diener aus dem Direktionszimmer hinausziehn ließ.

Ich stieg auf mein Pferd und setzte mich fest in den Sattel. Das Dienstmädchen lief aus dem Tor auf mich zu und meldete, meine Frau wolle mich noch in einer dringenden Sache sprechen, ich möge nur einen Augenblick warten, sie sei noch nicht vollständig angezogen. Ich nickte und saß still auf meinem Pferd, das hie und da die Vorderbeine leicht hob und ein wenig emporstieg. Wir wohnten am Ende des Ortes, vor mir zog sich schon die Landstraße in der Sonne eine Anhöhe aufwärts, die eben ein kleiner Wagen von der andern Seite langsam erklettert hatte, um jetzt eilig zum Ort herabzufahren. Der Kutscher fuchtelte mit der Peitsche, eine Frau in ganz provinzmäßigem gelbem Kleid saß im dunklen, staubbedeckten Wageninnern.

Ich staunte gar nicht darüber, dass der Wagen vor meinem Haus hielt.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at