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[Tagebuch, 27. Juli 1914; Montag]

27 VII (1914) Nächsten Tag zu den Eltern nicht mehr gegangen. Nur Radler mit Abschiedsbrief geschickt. Brief unehrlich und kokett "Behaltet mich nicht in schlechtem Andenken". Ansprache vom Richtplatz. Zweimal in der Schwimmschule am Strahlauer Ufer gewesen. Viele Juden. Bläuliche Gesichter, starke Körper, wildes Laufen. Abend im Garten des "Askanischen Hofes". Gegessen Reis à la Trautmannsdorf und einen Pfirsich. Ein Weintrinker beobachtet mich wie ich den kleinen unreifen Pfirsich mit dem Messer zu zerschneiden versuche. Es gelingt nicht. Aus Scham lasse ich unter den Blicken des Alten vom Pfirsich überhaupt ab und durchblättere 10mal die "fliegenden Blätter". Ich warte, ob er sich nicht doch abwenden wird. Endlich nehme ich alle Kraft zusammen und beiße ihm zu Trotz in den ganz saftlosen teueren Pfirsich. In der Laube neben mir ein großer Herr, der sich um nichts kümmert, als um den Braten, den er sorgfältig aussucht und um den Wein im Eiskübel. Endlich zündet er sich eine große Zigarre an, ich beobachte ihn über meine "Fliegenden Blätter" hinweg. Abfahrt vom Lehrter Bahnhof. Der Schwede in Hemdärmeln. Das starke Mädchen mit vielen silbernen Armreifen. Umsteigen in Büchen in der Nacht. Lübeck. Schreckliches Hotel Schützenhaus. Überfüllte Wände, schmutzige Wäsche unter dem Leintuch, verlassenes Haus, ein Pikkolo ist die einzige Bedienung. Aus Furcht vor dem Zimmer gehe ich noch in den Garten und sitze dort bei einer Flasche Harzer Sauerbrunn. Mir gegenüber beim Bier ein Buckliger und ein magerer blutleerer junger Mensch, der raucht. Doch geschlafen, aber bald von der Sonne geweckt, die durch das große Fenster geradeaus mir ins Gesicht scheint. Fenster führt auf den Bahnkörper, unaufhörlich Lärm der Züge. Erlösung und Glück nach der Übersiedlung ins Hotel Kaiserhof an der Trave. Fahrt nach Travemünde. Bad - Familienbad. Anblick des Strandes. Nachmittag im Sand. Durch die nackten Füße als unanständig aufgefallen. Neben mir der scheinbare Amerikaner. Statt zu mittag zu essen, an allen Pensionen und Restaurationen vorübergegangen. In der Allee vor dem Kurhaus gesessen und der Tafelmusik zugehört. In Lübeck Spaziergang auf dem Wall. Trauriger verlassener Mann auf einer Bank. Leben auf dem Sportplatz. Stiller Platz, Menschen vor allen Türen auf Stufen und Steinen. Morgen vom Fenster aus, Ausladen der Hölzer aus einem Segelboot. Dr. W. am Bahnhof. Nicht mehr aufhörende Ähnlichkeit mit Löwy. Entschlußunfähigkeit wegen Gleschendorf. Essen in der Hansa-Meierei. "Errötende Jungfrau". Einkaufen des Nachtmahls. Telephonisches Gespräch mit Gleschendorf. Fahrt nach Marienlyst. Trajekt. Geheimnisvolles Verschwinden eines jungen Mannes mit Regenmantel und Hut und geheimnisvolles Wiederauftauchen beider. Fahrt im Wagen von Vaggerlese nach Marienlyst.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at