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[Tagebuch, 21. Juni 1914; Sonntag]

21. VI 14 Verlockung im Dorf.

Der alte Junggeselle mit der geänderten Barttracht

Die weißgekleidete Frau mitten im Hof des Kinskyschlosses. Deutliche Schattierung der hohen Busenwölbung trotz der Entfernung. Starrer Sitz.

Ich kam einmal im Sommer gegen Abend in ein Dorf in dem ich noch nie gewesen war. Mir fiel auf wie breit und frei die Wege waren. Überall vor den Bauernhöfen sah man hohe alte Bäume. Es war nach einem Regen, die Luft gieng frisch, mir gefiel alles so gut. Ich suchte es durch meinen Gruß den Leuten zu zeigen die vor den Toren standen, sie antworteten freundlich, wenn auch zurückhaltend. Ich dachte dass es gut wäre hier zu übernachten, wenn ich einen Gasthof fände.

Ich gieng gerade an der hohen grünbewachsenen Mauer eines Hofes vorüber, als eine kleine Tür in dieser Mauer sich öffnete, drei Gesichter hervorsahn, verschwanden und die Tür sich wieder schloß. "Sonderbar" sagte ich seitwärts, als hätte ich einen Begleiter. Und tatsächlich stand neben mir, wie um mich verlegen zu machen, ein großer Mann, ohne Hut und Rock, in einer gestrickten schwarzen Weste und rauchte eine Pfeife. Ich faßte mich rasch und sagte, als hätte ich schon früher von seiner Anwesenheit gewußt: "Diese Tür! Haben Sie auch gesehn, wie sich diese kleine Tür geöffnet hat. " "Ja" sagte der Mann "aber warum soll das sonderbar sein, es waren die Kinder des Pächters. Sie haben Ihre Schritte gehört und nachgesehn, wer so spät abend hier geht." "Das ist allerdings eine einfache Erklärung" sagte ich lächelnd "einem Fremden kommt leicht alles sonderbar vor. Ich danke Ihnen. " Und ich gieng weiter. Aber der Mann folgte mir. Ich wunderte mich nicht eigentlich darüber, der Mann konnte den gleichen Weg haben, aber es war kein Grund, warum wir hintereinander und nicht nebeneinander gehn sollten. Ich drehte mich um und sagte: "Ist hier der richtige Weg zum Gasthof?" Der Mann blieb stehn und sagte: Einen Gasthof haben wir nicht oder vielmehr wir haben einen, aber er ist unbewohnbar. Er gehört der Gemeinde und sie hat ihn schon vor Jahren, da sich niemand um ihn beworben hat, einem alten Krüppel vergeben, für den sie bisher hatte sorgen müssen. Der verwaltet jetzt mit seiner Frau den Gasthof undzwar so, dass man kaum an der Tür vorübergehn kann, so groß ist der Gestank, der herauskommt. In der Wirtstube gleitet man vor Schmutz aus. Eine elende Wirtschaft, eine Schande des Dorfes, eine Schande der Gemeinde. Ich hatte Lust dem Mann zu widersprechen, sein Aussehn reizte mich dazu, dieses im Grunde magere Gesicht mit gelblichen, lederartigen schwach gepolsterten Wangen und schwarzen nach den Kieferbewegungen durch das ganze Gesicht irrenden Falten. "So" sagte ich, ohne weiteres Staunen über diese Verhältnisse auszudrücken und fuhr dann fort: "Nun, ich werde doch dort wohnen da ich nun einmal entschlossen bin, hier zu übernachten." "Dann allerdings" sagte der Mann hastig "ins Gasthaus müssen Sie aber hier gehn" und er zeigte mir die Richtung aus der ich gekommen war. "Gehn Sie bis zur nächsten Ecke und biegen Sie dann rechts ein. Sie werden dann gleich eine Gasthaus-Tafel sehn. Dort ist es. " Ich dankte für die Auskunft und gieng nun wieder an ihm, der mich jetzt besonders genau beobachtete, vorüber. Dagegen, dass er mir vielleicht eine falsche Richtung angegeben hatte, war ich allerdings wehrlos, wohl aber sollte er mich weder dadurch verblüffen, dass er mich jetzt zwang an ihm vorbeizumarschieren, noch dadurch, dass er so auffallend schnell von seiner Warnung wegen des Gasthauses abgelassen hatte. Das Gasthaus würde mir auch ein anderer zeigen und war es schmutzig, so konnte ich auch einmal im Schmutz schlafen, wenn nur mein Trotz befriedigt war. Übrigens hatte ich auch nicht viel andere Wahl, es war schon dunkel, die Landstraßen waren vom Regen aufgeweicht und der Weg zum nächsten Dorf noch lang.

Ich hatte den Mann schon hinter mir und beabsichtigte mich gar nicht mehr um ihn zu kümmern, da hörte ich eine Frauenstimme, die zu dem Mann sprach. Ich drehte mich um. Aus dem Dunkel unter einer Gruppe von Platanen trat eine große aufrechte Frau hervor. Ihr Rock glänzte gelblichbraun, am Kopf und an den Schultern lag ein schwarzes grobmaschiges Tuch; "Komm doch schon nachhause" sagte sie zu dem Mann. "Warum kommst Du nicht?" "Ich komme schon" sagte er. "Warte nur noch ein Weilchen. Ich will nur noch zusehn, was dieser Mann hier machen wird. Es ist ein Fremder. Er treibt sich hier ganz unnötiger Weise herum. Sieh nur. " Er redete von mir, als sei ich taub oder als verstünde ich seine Sprache nicht. Nun lag mir allerdings nicht viel daran, was er sagte, aber es wäre mir natürlich unangenehm gewesen, wenn er im Dorf irgendwelche falschen Gerüchte über mich verbreitet hätte. Ich sagte also zu der Frau hinüber: "Ich suche hier den Gasthof, nichts weiter. Ihr Mann hat kein Recht in dieser Weise von mir zu reden und Ihnen vielleicht eine falsche Meinung über mich beizubringen. " Die Frau sah aber kaum auf mich hin, sondern gieng zu ihrem Mann - ich hatte richtig erkannt, dass es ihr Mann war, eine so gerade selbstverständliche Beziehung bestand zwischen ihnen - und legte die Hand auf seine Schulter: "Wenn Sie etwas haben wollen, dann reden Sie mit meinem Mann nicht mit mir. " "Ich will gar nichts haben" sagte ich, ärgerlich über diese Behandlung "ich kümmere mich um sie nicht, kümmern Sie sich auch nicht um mich. Das ist meine einzige Bitte. " Die Frau zuckte mit dem Kopf, das konnte ich im Dunkel noch sehn, den Ausdruck ihrer Augen aber nicht mehr. Offenbar wollte sie etwas antworten, aber ihr Mann sagte: "Sei still! " und sie schwieg.

Dieses Zusammentreffen schien mir nun endgültig erledigt, ich drehte mich um und wollte weitergehn, da rief jemand "Herr". Das galt wahrscheinlich mir. Im ersten Augenblick wußte ich gar nicht woher die Stimme kam, dann aber sah ich über mir auf der Hofmauer einen jungen Mann sitzen, der mit herabbaumelnden Beinen und aneinanderschlagenden Knien nachlässig zu mir sagte: "Ich habe jetzt gehört, dass Ihr im Dorf übernachten wollt. Außer hier auf dem Hof bekommt Ihr nirgends ein brauchbares Quartier. " "Auf dem Hof?" fragte ich und unwillkürlich, ich war nachher darüber wütend, sah ich fragend auf das Ehepaar, das noch immer aneinandergelehnt dastand und mich beobachtete. "Es ist so" sagte er, in seiner Antwort wie in seinem ganzen Benehmen war Hochmut. "Es werden hier Betten vermietet" fragte ich nochmals, um Sicherheit zu haben und um den Mann in die Rolle des Vermieters zurückzudrängen. "Ja" sagte er und hatte schon den Blick ein wenig von mir abgewendet "es werden hier Betten für die Nacht überlassen, nicht jedem, sondern nur dem, dem sie angeboten werden. " "Ich nehme es an" sagte ich "werde aber natürlich das Bett bezahlen, wie im Gasthof. " "Bitte" sagte der Mann und sah schon längst über mich hinweg "wir werden euch nicht übervorteilen. " Er saß oben wie der Herr, ich stand unten wie ein kleiner Diener, ich hatte viel Lust ihn dort oben durch einen Steinwurf etwas lebendiger zu machen. Statt dessen sagte ich: "Macht mir bitte also die Tür auf." "Sie ist nicht zugesperrt" sagte er.

"Sie ist nicht zugesperrt" wiederholte ich brummend fast ohne es zu wissen, öffnete die Tür und trat ein. Zufällig sah ich gleich nach dem Eintritt auf die Mauer hinauf, der Mann war nicht mehr oben, er war offenbar die Mauer trotz ihrer Höhe hinabgesprungen und besprach sich vielleicht mit dem Ehepaar. Mochten sie sich besprechen, was konnte mir einem jungen Menschen geschehn, dessen Barschaft knapp 3 Gulden überstieg und dessen sonstiger Besitz in nicht viel anderem bestand, als einem reinen Hemd im Rucksack und einem Revolver in der Hosentasche. Übrigens sahen die Leute gar nicht so aus, als ob sie jemanden bestehlen wollten. Was konnten sie aber sonst von mir verlangen? Es war der gewöhnliche ungepflegte Garten großer Bauernhöfe, die feste Steinmauer hatte mehr erwarten lassen. Im hohen Gras standen regelmäßig verteilt abgeblühte Kirschbäume. In der Ferne sah man das Bauernhaus, einen ausgedehnten ebenerdigen Bau. Es wurde schon sehr dunkel; ich war ein später Gast; wenn mich der Mann auf der Mauer irgendwie belogen hatte, konnte ich in eine unangenehme Lage kommen. Auf dem Weg zum Haus traf ich niemanden, aber schon paar Schritte vor dem Haus sah ich durch die offene Tür im ersten Raum zwei große alte Leute, Mann und Frau, nebeneinander, die Gesichter der Tür zugewendet, aus einer Schüssel irgendeinen Brei essen. In der Finsternis unterschied ich nichts genaueres, nur an dem Rock des Mannes glänzte es stellenweise wie von Gold, es waren wohl die Knöpfe oder die Uhrkette. Ich grüßte und sagte dann, ohne vorläufig die Schwelle zu überschreiten: "Ich suchte gerade Nachtquartier im Ort, da sagte mir ein junger Mann, der auf der Mauer ihres Gartens saß, dass man hier im Hofe gegen Bezahlung übernachten könne. " Die zwei Alten hatten ihre Löffel in den Brei gesteckt, sich auf ihrer Bank zurückgelehnt und sahen mich schweigend an. Sehr gastfreundlich war ihr Benehmen nicht. Ich fügte deshalb hinzu: "Ich hoffe dass die Auskunft, die ich bekommen habe, richtig war und dass ich Sie nicht unnötigerweise gestört habe. " Ich sagte das sehr laut, denn vielleicht waren die zwei auch schwerhörig. Kommen Sie näher sagte der Mann nach einem Weilchen. Nur weil er so alt war folgte ich ihm, sonst hätte ich natürlich daraufbestanden, dass er auf meine bestimmte Frage bestimmt antworte. Jedenfalls sagte ich, während des Eintretens: "Wenn Ihnen meine Aufnahme nur die geringsten Schwierigkeiten machen sollte, so sagen Sie es offen, ich bestehe durchaus nicht darauf. Ich gehe in den Gasthof, es ist mir ganz gleichgültig. " "Er redet soviel" sagte die Frau leise. Es konnte nur als Beleidigung gemeint sein, auf meine Höflichkeiten antwortete man also mit Beleidigungen, aber es war eine alte Frau, ich konnte mich nicht wehren. Und gerade diese Wehrlosigkeit war vielleicht der Grund dessen, dass die nicht zurückzutreibende Bemerkung der Frau in mir viel mehr wirkte, als sie es verdiente. Ich fühlte irgendeine Berechtigung irgendeines Tadels, nicht deshalb weil ich zuviel gesprochen hatte, denn ich hatte tatsächlich nur das notwendigste gesagt, aber aus sonstigen ganz nah an meine Existenz heranreichenden Gründen.

Ich sagte nichts weiter, bestand auf keiner Antwort, sah in einem nahen dunklen Winkel eine Bank, gieng hin und setzte mich. Die Alten begannen wieder zu essen, ein Mädchen kam aus einem Nebenzimmer und stellte eine brennende Kerze auf den Tisch. Jetzt sah man noch weniger als früher, alles war im Dunkel zusammengezogen, nur die kleine Flamme flackerte über den ein wenig gebeugten Köpfen der Alten. Einige Kinder liefen aus dem Garten herein, eines fiel lang hin und weinte, die andern stockten im Lauf und standen nun verstreut im Zimmer, der Alte sagte: "Geht schlafen, Kinder. " Sofort sammelten sie sich, das Weinende schluchzte nur noch, ein Junge in meiner Nähe zupfte mich am Rock, als ob er meinte ich solle auch mitkommen, tatsächlich wollte ich ja auch schlafen gehn, ich stand also auf und gieng als großer Mensch inmitten der Kinder, die laut und einheitlich Gute Nacht sagten, stumm aus dem Zimmer. Der freundliche kleine Junge hielt mich an der Hand, so dass ich mich leicht im Dunkel zurechtfand. Wir kamen aber auch sehr bald zu einer Leitertreppe, stiegen hinauf und waren auf dem Boden. Durch eine kleine offene Dachluke sah man gerade den schmalen Mond, es war eine Lust unter die Luke zu treten, mein Kopf ragte fast in sie hinein, und die laue und doch kühle Luft zu atmen. Auf der Erde war an einer Wand Stroh aufgeschüttet, dort war auch für mich genug Platz zum Schlafen. Die Kinder - es waren 2 Jungen und 3 Mädchen - zogen sich unter Lachen aus, ich hatte mich in den Kleidern aufs Stroh geworfen, ich war doch bei Fremden und hatte keinen Anspruch darauf hier gelassen zu werden. Auf den Elbogen gestützt sah ich ein Weilchen den Kindern zu, die halbnackt in einem Winkel spielten. Dann fühlte ich mich aber so müde, dass ich den Kopf auf meinen Rucksack legte, die Arme ausstreckte, ein wenig noch die Dachbalken mit den Blicken streifte und einschlief. Im ersten Schlaf glaubte ich noch den einen Knaben rufen zu hören: Achtung er kommt! worauf in mein schon entschwindendes Bewußtsein das eilige Trippeln der Kinder hineinklang, die zu ihrem Lager liefen. Ich hatte gewiß nur ganz kurze Zeit geschlafen, denn als ich aufwachte, fiel das Mondlicht durch die Luke fast unverändert auf die gleiche Stelle des Fußbodens. Ich wußte nicht, warum ich aufgewacht war, denn ich hatte ohne Träume und tief geschlafen. Da bemerkte ich neben mir etwa in der Höhe meines Ohres einen ganz kleinen buschigen Hund, eines jener widerlichen Schoßhündchen mit verhältnismäßig großem von lockigen Haaren umgebenen Kopf, in den die Augen und die Schnauze wie Schmuckstücke aus irgendeiner leblosen hornartigen Masse locker eingesetzt sind. Wie kam ein solcher Großstadthund ins Dorf? Was trieb ihn bei Nacht im Haus herum Warum stand er bei meinem Ohr? Ich fauchte ihn an, damit er weggienge, vielleicht war er ein Spielzeug der Kinder und hatte sich zu mir nur verirrt. Er erschrak über mein Blasen, lief aber nicht weg, sondern drehte sich nur um, stand nun mit krummen Beinchen da und zeigte seinen besonders im Vergleich zum großen Kopf verkümmerten kleinen Leib. Da er ruhig blieb, wollte ich wieder schlafen, aber ich konnte nicht immerfort sah ich gerade vor meinen geschlossenen Augen in der Luft den Hund schaukeln und die Augen hervordrücken. Das war unerträglich, ich konnte das Tier nicht neben mir behalten, ich stand auf und nahm es auf den Arm, um es hinauszutragen. Aber das bisher so stumpfe Tier fieng sich zu wehren an und versuchte mit seinen Krallen mich zu fassen. Ich mußte also auch seine Pfötchen verwahren, was freilich sehr leicht war, alle 4 konnte ich in einer Hand zusammenhalten. "So mein Hündchen" sagte ich zu dem aufgeregten Köpfchen mit den sich schüttelnden Locken hinunter und gieng mit ihm ins Dunkel, um die Tür zu suchen. Erst jetzt fiel mir auf, wie still das Hündchen war, es bellte und quietschte nicht, nur das Blut klopfte ihm wild durch alle Adern das fühlte ich. Nach ein paar Schritten - die Aufmerksamkeit, die der Hund in Anspruch nahm hatte mich unvorsichtig gemacht - stieß ich zu meinem großen Ärger an eines der schlafenden Kinder. Es war jetzt auch ganz dunkel in der Bodenkammer, durch die kleine Luke kam nur noch wenig Licht. Das Kind seufzte, ich stand einen Augenblick still, entfernte nicht einmal meine Fußspitze, um nur durch keine Änderung das Kind noch mehr zu wecken. Es war zu spät, plötzlich sah ich rings um mich die Kinder in ihren weißen Hemden sich erheben, wie auf Verabredung, wie auf Befehl, meine Schuld war es nicht, ich hatte nur ein Kind geweckt und dieses Wecken war gar kein Wecken gewesen sondern nur eine kleine Störung, die ein Kinderschlaf leicht hätte überstehen müssen. Nun, jetzt waren sie wach. "Was wollt Ihr Kinder fragte ich schlaft doch weiter. " Sie tragen etwas sagte ein Junge und alle fünf suchten an mir herum. Ja sagte ich, ich hatte nichts zu verbergen, wenn die Kinder das Tier hinaustragen wollten war es desto besser. "Diesen Hund trage ich hinaus. Er hat mich nicht schlafen lassen. Wisset Ihr, wem er gehört?" "Der Frau Cruster" so glaubte ich wenigstens aus ihren verwirrten undeutlichen verschlafenen nicht für mich nur für einander berechneten Ausrufen herauszuhören. "Wer ist denn Frau Cruster" fragte ich, aber ich bekam von den aufgeregten Kindern keine Antwort mehr. Eines nahm mir den Hund, der nun ganz still geworden war, vom Arm, und eilte mit ihm weg, alle folgten. Allein wollte ich hier nicht bleiben, die Schläfrigkeit war mir nun auch schon vergangen, einen Augenblick zögerte ich zwar, es schien mir als mische ich mich zu sehr in die Angelegenheiten dieses Hauses ein, in dem mir niemand großes Vertrauen gezeigt hatte, schließlich aber lief ich doch den Kindern nach. Ich hörte knapp vor mir das Tappen ihrer Füße, aber in dem völligen Dunkel und auf den unbekannten Wegen stolperte ich öfters und schlug sogar einmal schmerzhaft mit dem Kopf an die Wand. Wir kamen auch in das Zimmer, in dem ich die Alten zuerst getroffen hatte, es war leer, durch die noch immer offene Tür sah man den Garten im Mondlicht. "Geh hinaus" sagte ich mir "die Nacht ist warm und hell, man kann weitermarschieren oder auch im Freien übernachten. Es ist doch so sinnlos, hier den Kindern nachzulaufen. " Aber ich lief doch weiter, ich hatte ja auch noch Hut, Stock und Rucksack oben auf dem Boden. Aber wie die Kinder liefen! Das mondbeleuchtete Zimmer hatten sie, wie ich deutlich gesehen hatte, mit wehenden Hemden in zwei Sprüngen durchflogen. Mir fiel ein, dass ich für den Mangel an Gastfreundschaft in diesem Hause gebührend dankte, indem ich die Kinder aufgescheucht hatte, einen Rundlauf durchs Haus veranstaltete, selbst statt zu schlafen das Haus durchlärmte (die Schritte der bloßen Kinderfüße waren neben meinen schweren Stiefeln kaum zu hören) und nicht einmal wußte, was sich noch als Folge alles dessen ergeben sollte. Plötzlich leuchtete es hell auf. In einem vor uns sich öffnenden Zimmer mit einigen weit offenen Fenstern saß bei einem Tisch eine zarte Frau und schrieb beim Licht einer großen schönen Stehlampe. "Kinder! " rief sie erstaunt, mich sah sie noch nicht, ich blieb vor der Tür im Schatten. Die Kinder stellten den Hund auf den Tisch, sie liebten die Frau wohl sehr, immerfort suchten sie ihr in die Augen zu sehn, ein Mädchen ergriff ihre Hand und streichelte sie, sie ließ es geschehn und merkte es kaum. Der Hund stand vor ihr auf dem Briefbogen auf dem sie eben geschrieben hatte, und streckte ihr seine zitternde kleine Zunge entgegen, die man knapp vor dem Lampenschirm deutlich sah. Die Kinder baten nun hierbleiben zu dürfen und suchten der Frau eine Zustimmung abzuschmeicheln. Die Frau war unentschlossen, erhob sich, streckte die Arme aus, zeigte auf das eine Bett und den harten Boden. Die Kinder wollten das nicht gelten lassen, und legten sich zur Probe auf den Boden nieder, wo sie gerade standen; ein Weilchen lang war alles still. Die Frau blickte lächelnd die Hände im Schooß gefaltet auf die Kinder nieder. Hie und da hob ein Kind den Kopf aber da es auch noch die andern liegen sah, legte es sich wieder zurück

Ich kam an einem abend etwas später als sonst aus dem Bureau nachhause - ein Bekannter hatte mich unten vor dem Haustor lange aufgehalten - und öffnete noch in Gedanken an das Gespräch, das sich hauptsächlich um Standesfragen gedreht hatte, mein Zimmer, hieng den Überrock an den Haken und wollte zum Waschtisch gehn, da hörte ich fremde kurze Atemzüge. Ich sah auf und bemerkte auf der Höhe des tief in einen Winkel gestellten Ofens im Halbdunkel etwas Lebendiges. Gelblich glänzende Augen blickten mich an, unter dem unkenntlichen Gesicht lagen zu beiden Seiten große runde Frauenbrüste auf dem Gesimse des Ofens auf, das ganze Wesen schien nur aus aufgehäuftem weichen weißen Fleisch zu bestehn, ein dicker langer gelblicher Schwanz hieng am Ofen herab, sein Ende strich fortwährend zwischen den Ritzen der Kacheln hin und her.

Das erste was ich tat, war, dass ich mit großen Schritten und tief gesenktem Kopf - Narrheit! Narrheit! wiederholte ich leise wie ein Gebet - zu der Türe gieng, die in die Wohnung meiner Vermieterin führte. Erst später bemerkte ich, dass ich ohne zu klopfen eingetreten war. Fräulein Hefter

Es war um Mitternacht. Fünf Männer hielten mich, über sie hinweg hob ein sechster seine Hand um mich zu fassen. "Los" rief ich und drehte mich im Kreis, dass alle abfielen. Ich fühlte irgendwelche Gesetze herrschen, hatte bei der letzten Anstrengung gewußt, dass sie Erfolg haben werde, sah wie alle Männer jetzt mit erhobenen Armen zurückflogen, erkannte, dass sie im nächsten Augenblick alle gemeinsam gegen mich stürzen müßten drehte mich zum Haustor um - ich stand knapp davor - öffnete das förmlich freiwillig und in ungewöhnlicher Eile aufspringende Schloß und entwich die dunkle Treppe hinauf. Oben im letzten Stock stand in der Wohnungstür meine alte Mutter mit einer Kerze in der Hand. "Gib acht, gib acht" rief ich schon vom vorletzten Stockwerk hinauf "sie verfolgen mich." "Wer denn? Wer denn?" fragte meine Mutter. "Wer könnte Dich denn verfolgen, mein Junge. " "Sechs Männer" sagte ich atemlos. "Kennst Du sie" fragte die Mutter. "Nein, fremde Männer" sagte ich. "Wie sehn sie denn aus?" "Ich habe sie ja kaum gesehn. Einer hat einen schwarzen Vollbart, einer einen großen Ring am Finger, einer hat einen roten Gürtel, einer hat die Hosen an den Knien zerrissen, einer hat nur ein Auge offen und der letzte zeigt die Zähne." "Jetzt denke nicht mehr daran", sagte die Mutter, "geh in Dein Zimmer, lege Dich schlafen, ich habe aufgebettet. " Die Mutter! diese alte Frau! schon unangreifbar vom Lebendigen, mit einem listigen Zug um den bewußtlos 80jährige Narrheiten wiederholenden Mund. "Jetzt schlafen?" rief ich "

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at