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[Tagebuch, 6. Juni 1914; Samstag]

6. VI 14 Aus Berlin zurück. War gebunden wie ein Verbrecher. Hätte man mich mit wirklichen Ketten in einen Winkel gesetzt und Gendarmen vor mich gestellt und mich nur auf diese Weise zuschauen lassen, es wäre nicht ärger gewesen. Und das war meine Verlobung und alle bemühten sich mich zum Leben zu bringen und, da es nicht gelang, mich zu dulden wie ich war. F. allerdings am wenigsten von allen, vollständig berechtigter Weise, denn sie litt am meisten. Was den andern bloße Erscheinung war, war ihr Drohung.

Wir ertrugen es zuhause keinen Augenblick. Wir wußten, dass man uns suchen würde. Aber wenn es auch abend war, wir liefen doch weg. Unsere Stadt war von Hügeln umgeben. Auf diesen Hügeln kletterten wir. Alle Bäume brachten wir zum Zittern, wenn wir uns im Abwärtslauf von einem zum andern schwangen.

Die Stellung im Geschäft am Abend kurz vor Geschäftsschluß: Die Hände in den Hosentaschen, ein wenig gebückt, aus der Tiefe des Gewölbes durch das weit offene Tor auf den Platz hinausschauen. Matte Bewegungen der Angestellten ringsherum hinter den Pulten. Ein schwaches Zusammenschnüren eines Packets, ein bewußtloses Abstauben einiger Schachteln, ein Aufeinanderschichten gebrauchten Packpapiers.

Ein Bekannter kommt und spricht mit mir. Ich lege mich förmlich auf ihn, so schwer bin ich. Er stellt folgende Behauptung auf: Manche sagen das, ich aber sage gerade das Entgegengesetzte. Er führt die Gründe seiner Meinung an. Ich schwanke. Die Hände liegen in meinen Hosentaschen als wären sie hineingefallen und doch wieder so locker, als müßte ich die Taschen nur leicht umklappen und sie fielen wieder schnell heraus.

Ich hatte das Geschäft geschlossen, die Angestellten, fremde Leute, entfernten sich mit dem Hut in der Hand. Es war ein Abend im Juni, zwar schon 8 Uhr aber noch hell. Ich hatte keine Lust einen Spaziergang zu machen, ich habe niemals Lust spazierenzugehn, aber ich wollte auch nicht nachhause. Als mein letzter Lehrjunge um die Ecke gebogen war, setzte ich mich vor dem geschlossenen Laden auf die Erde.

Ein Bekannter mit seiner jungen Frau kam vorüber und sah mich auf der Erde sitzen. Sieh wer da sitzt sagte er. Sie blieben stehn und der Mann schüttelte mich ein wenig, trotzdem ich ihn von allem Anfang ruhig ansah. Mein Gott warum sitzen Sie denn hier so fragte die junge Frau. "Ich werde mein Geschäft auflassen sagte ich. Es geht nicht besonders schlecht, auch kann ich meinen Verpflichtungen wenn auch knapp so doch vollständig nachkommen. Aber die Sorgen kann ich nicht ertragen, die Angestellten kann ich nicht beherrschen, mit den Kundschaften kann ich nicht reden. Ich werde sogar schon von morgen ab das Geschäft nicht mehr aufmachen. Es ist alles wohl überlegt. " Ich sah wie der Mann seine Frau zu beruhigen suchte, indem er ihre Hand zwischen seine beiden Hände nahm.

"Nun gut" sagte er "Sie wollen Ihr Geschäft aufgeben, Sie sind nicht der Erste, der das tut. Auch wir - er sah zu seiner Frau hinüber - werden, bis unser Vermögen für unsere Bedürfnisse ausreicht - möge es bald sein - nicht weniger zögern als Sie unser Geschäft aufzugeben. Das Geschäft macht uns ebensowenig Vergnügen wie Ihnen, das dürfen Sie uns glauben. Aber warum sitzen Sie auf der Erde"

Wohin soll ich gehn? sagte ich. Ich wußte natürlich, warum sie mich fragten. Es war Mitleid, Verwunderung und auch Verlegenheit, die sie fühlten, aber ich war durchaus nicht imstande auch noch ihnen zu helfen.

"Willst Du Dich nicht in unsere Gesellschaft aufnehmen lassen" fragte mich letzthin ein Bekannter, als er mich nach Mitternacht allein in einem schon fast leeren Kaffeehaus traf. Nein das will ich nicht sagte ich

Es war schon nach Mitternacht. Ich saß in meinem Zimmer und schrieb einen Brief, an dem mir sehr viel lag, da ich durch ihn eine gute Stellung im Ausland zu erreichen hoffte. Ich suchte dem Bekannten, an den er gerichtet war und mit dem ich jetzt nach 10jähriger Trennung zufällig durch einen gemeinschaftlichen Freund wieder in Verbindung kommen sollte, die längst vergangenen Zeiten wieder in Erinnerung zu bringen und gleichzeitig ihm begreiflich zu machen, wie mich alles aus meiner Heimat drängte und wie ich ohne sonstige, gute weitreichende Beziehungen wie ich war in ihn meine größte Hoffnung setzte.

Der Magistratsbeamte Bruder kam erst gegen 9 Uhr abends aus seiner Kanzlei nachhause. Es war schon ganz dunkel. Seine Frau erwartete ihn vor dem Haustor, ihr kleines Mädchen hielt sie an sich gedrückt. "Wie steht es?" fragte sie. "Sehr schlecht" sagte Bruder "Komm nur ins Haus, ich erzähle Dir dann alles." Kaum waren sie ins Haus getreten, sperrte Bruder das Haustor ab. Wo ist das Dienstmädchen fragte er. "In der Küche" sagte die Frau. "Dann ist gut, kommt!" Im großen niedrigen Wohnzimmer wurde die Stehlampe angezündet, alle setzten sich und Bruder sagte: Die Sache steht also folgendermaßen. Die unsrigen sind vollständig im Rückzug. Das Gefecht bei Rumdorf ist wie ich aus zweifellosen Nachrichten die im Stadtamt eingelaufen sind, ersehen habe, gänzlich zu unsern Ungunsten ausgefallen. Es ist auch schon der größte Teil der Truppen aus der Stadt weggezogen. Man verheimlicht es noch, um den Schrecken in der Stadt nicht grenzenlos zu steigern. Ich halte das für nicht ganz vernünftig, es wäre besser offen die Wahrheit zu sagen. Aber meine Pflicht verlangt, dass ich schweige. Dir allerdings die Wahrheit zu sagen, kann mich niemand hindern. Übrigens ahnen auch alle das Richtige, das merkt man überall. Alles versperrt die Häuser, versteckt was versteckt werden kann.

Der Magistratsbeamte Bruder kam erst um 10 Uhr abends aus seiner Kanzlei nachhause, trotzdem klopfte er sofort an die Tür, die sein Zimmer von der Wohnung des Möbelhändlers Rumford bei dem er eingemietet war, trennte. Er konnte zwar nur ein undeutliches Wort hören, trat aber dennoch ein. Rumford saß mit einer Zeitung beim Tisch, sein Fett plagte ihn an diesem heißen Juliabend, er hatte Rock und Weste auf das Kanapee geworfen; sein Hemd

Einige Beamten des Stadtamtes standen an der steinernen Brüstung eines Rathausfensters und sahen auf den Platz hinunter. Der letzte Teil der Nachhut wartete dort auf den Befehl zum Abzug. Es waren junge große rotwangige Burschen die ihre hin- und herzuckenden Pferde straff im Zügel hielten. Vor ihnen ritten zwei Officiere langsam auf und ab. Sie warteten offenbar auf eine Nachricht. Öfters schickten sie einen Reiter fort, der in größter Eile in einer steil ansteigenden Seitenstraße des Ringsplatzes verschwand. Bisher war keiner zurückgekehrt.

Zu der Gruppe am Fenster war der Beamte Bruder getreten, ein zwar noch junger aber vollbärtiger Mann. Da er einen höhern Rang hatte und infolge seiner Begabung in besonderem Ansehen stand, verbeugten sich alle höflich und ließen ihn bis zur Brüstung vor. "Das ist also das Ende" sagte er mit dem Blick auf den Platz "es ist ja zu offenbar. " "Sie glauben also Herr Rat sagte ein junger hochmütiger Mensch, der sich trotz der Ankunft Bruders von seinem Platze nicht weggerührt hatte und nun derart nah an Bruder stand, dass sie einander gar nicht ins Gesicht sehn konnten Sie glauben also dass die Schlacht verloren ist?" Ganz gewiß. Daran ist ja kein Zweifel. Wir sind im Vertrauen gesagt schlecht geführt. Wir müssen verschiedene alte Sünden büßen. Jetzt ist allerdings keine Zeit darüber zu reden, jetzt soll jeder für sich sorgen. Wir sind ja vor der endgiltigen Auflösung. Heute abend können die Gäste schon hier sein. Vielleicht warten sie nicht einmal bis abend sondern sind in einer 1/2 Stunde hier.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at