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[Tagebuch, 28. Mai 1914; Donnerstag]

28 / V 14 Übermorgen fahre ich nach Berlin. Trotz Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Sorgen vielleicht in einem bessern Zustand als jemals.

Einmal brachte er ein Mädchen mit. Während ich grüße und auf ihn nicht achte, springt er auf mich und reißt mich in die Höhe. "Ich protestiere" rief ich und hob die Hand. "Schweig" flüsterte er mir ins Ohr. Ich merkte, dass er um jeden Preis selbst mit schändlichen Griffen vor dem Mädchen siegen wollte, um sich in Glanz zu setzen. "Er hat mir gesagt: >Schweig"< rief ich deshalb, den Kopf zum Mädchen hingedreht. "Oh gemeiner Mensch" stöhnte der Mann leise, er verbrauchte an mir alle seine Kraft. Immerhin schleppte er mich noch zum Kanapee, legte mich hin, kniete auf meinem Rücken nieder, wartete die Wiederkehr der Sprache ab und sagte: "Da liegt er also." "Er soll es noch einmal versuchen" wollte ich sagen, aber schon nach dem ersten Wort drückte er mir das Gesicht so stark in die Polsterung, dass ich schweigen mußte. "Nun ja" sagte das Mädchen, das sich an meinen Tisch gesetzt hatte und einen dort liegenden angefangenen Brief überlas. "Werden wir nicht schon gehn? Er hat gerade einen Brief angefangen. " "Er wird ihn auch nicht fortsetzen, wenn wir fortgehn. Komm mal her. Greif z. B. hier an den Schenkel, er zittert ja wie ein krankes Tier. " "Ich sage laß ihn und komm. " Sehr widerwillig kroch der Mann von mir hinunter. Ich hätte ihn jetzt durchprügeln können, denn ich war jetzt ausgeruht, er aber hatte alle Muskeln angespannt, um mich niederzuhalten. Er hatte gezittert und hatte geglaubt ich zittere. Er zitterte sogar noch immer. Ich ließ ihn aber in Ruhe, weil das Mädchen zugegen war. "Sie werden sich wahrscheinlich Ihr Urteil über diesen Kampf schon selbst gebildet haben" sagte ich zu dem Mädchen, gieng mit einer Verbeugung an ihm vorüber und setzte mich zum Tisch um den Brief fortzusetzen. "Wer zittert also?" fragte ich, ehe ich zu schreiben anfieng und hielt den Federhalter zum Beweis, dass ich es nicht war, steif in die Luft. Schon im Schreiben rief ich ihnen als sie in der Tür waren, ein kurzes Adieu zu, schlug aber ein wenig mit dem Fuß aus, um wenigstens für mich die Verabschiedung anzudeuten, die wahrscheinlich beide verdient hätten.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at