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[Tagebuch, 9. März 1914; Montag]

9. III 14

Rense gieng paar Schritte durch den halbdunklen Gang, öffnete die kleine Tapetentür des Eßzimmers und sagte zu der überlauten Gesellschaft, fast ohne hinzusehn: Bitte seid ein wenig ruhig. Ich habe einen Gast. Ich bitte um etwas Rücksicht. Als er wieder in sein Zimmer zurückgieng und den unveränderten Lärm hörte, stockte er einen Augenblick, wollte nochmals zurückgehn, besann sich aber anders und kehrte in sein Zimmer zurück.

Dort stand ein etwa 18 jähriger Junge beim Fenster und sah auf den Hof hinab. Es ist schon ruhiger sagte er als Rense eintrat und hob seine lange Nase und seine tiefliegenden Augen zu ihm auf. Es ist gar nicht ruhiger sagte Rense und nahm einen Schluck aus der Bierflasche die auf dem Tische stand, Ruhe kann man hier überhaupt nicht haben. Daran wirst Du Dich gewöhnen müssen, Junge

Ich bin zu müde, ich muß mich durch Schlaf zu erholen suchen, sonst bin ich in jeder Hinsicht verloren. Was für Mühen sich zu erhalten! Kein Denkmal braucht solchen Aufwand von Kräften, um aufgerichtet zu werden.

Die Argumentation im allgemeinen: Ich bin an F. verloren.

Rense, ein Student, saß in seinem kleinen Hofzimmer und studierte. Die Magd kam und meldete, ein junger Mann wolle mit Rense sprechen. Wie heißt er denn? fragte Rense. Die Magd wußte es nicht.

Ich werde hier F. nicht vergessen, daher nicht heiraten

Ist das ganz bestimmt?

Ja, das kann ich beurteilen, ich bin fast 31 Jahre alt, kenne F. fast zwei Jahre, muß also schon einen Überblick haben. Außerdem aber ist hier meine Lebensweise eine derartige, dass ich nicht vergessen kann, selbst wenn F. keine solche Bedeutung für mich hätte. Die Einförmigkeit, Gleichmäßigkeit, Bequemlichkeit und Unselbstständigkeit meiner Lebensweise halten mich dort, wo ich einmal bin, unweigerlich fest. Außerdem habe ich einen mehr als gewöhnlichen Hang zu einem bequemen und unselbständigen Leben, alles Schädigende wird also noch durch mich verstärkt. Endlich altere ich doch auch, Umwandlungen werden immer schwerer. In alledem aber sehe ich ein großes Unglück für mich, das dauernd und aussichtslos wäre; ich würde mich auf der Gehaltsleiter und in den Jahren fortschleppen und immer trauriger und einsamer werden, solange ich es eben überhaupt aushielte

Du hast doch aber ein solches Leben Dir gewünscht?

Das Beamtenleben könnte für mich gut sein, wenn ich verheiratet wäre. Es gäbe mir in jeder Hinsicht gegenüber der Gesellschaft, gegenüber der Frau, gegenüber dem Schreiben einen guten Rückhalt, ohne allzuviel Opfer zu verlangen und ohne auf der andern Seite in Bequemlichkeit und Unselbständigkeit auszuarten, denn als verheirateter Mann hätte ich das nicht zu fürchten. Als Junggeselle aber kann ich ein solches Leben nicht zu Ende führen.

Du hättest aber doch heiraten können?

Ich konnte damals nicht heiraten, alles in mir hat dagegen revoltiert, so sehr ich F. immer liebte. Es war hauptsächlich die Rücksicht auf meine schriftstellerische Arbeit, die mich abhielt, denn ich glaubte diese Arbeit durch die Ehe gefährdet. Ich mag Recht gehabt haben; durch das Junggesellentum aber innerhalb meines jetzigen Lebens ist sie vernichtet. Ich habe ein Jahr lang nichts geschrieben, ich kann auch weiterhin nichts schreiben, ich habe und behalte im Kopf nichts als den einen Gedanken und der zerfrißt mich. Das alles habe ich damals nicht überprüfen können. Übrigens gehe ich bei meiner durch diese Lebensweise zumindest genährten Unselbständigkeit an alles zögernd heran und bringe nichts mit dem ersten Schlag fertig. So war es auch hier.

Warum gibst Du alle Hoffnung auf, F. doch zu bekommen?

Ich habe jede Selbstdemütigung schon versucht. Im Tiergarten sagte ich einmal: "Sag "ja", auch wenn Du Dein Gefühl für mich als nicht genügend für eine Ehe ansiehst, meine Liebe zu Dir ist groß genug, um auch das Fehlende zu ersetzen und überhaupt stark genug, um alles auf sich zu nehmen. " F. schien durch meine Eigenheiten beunruhigt, vor denen ich ihr im Laufe eines großen Briefwechsels Angst eingejagt hatte. Ich sagte: "ich habe Dich lieb genug, um alles abzulegen, was Dich stören könnte. Ich werde ein anderer Mensch werden. " Ich hatte, wie ich jetzt, da alles klar werden muß, eingestehen kann, selbst zur Zeit unseres herzlichsten Verhältnisses oft Ahnungen und durch Kleinigkeiten begründete Befürchtungen, dass F. mich nicht sehr lieb hat, nicht mit aller Liebeskraft deren sie fähig ist. Das ist nun, nicht ohne meine Mithilfe allerdings, auch F. zu Bewußtsein gekommen. Ich fürchte fast, F. hat sogar nach meinen letzten zwei Besuchen einen gewissen Ekel vor mir, trotzdem wir äußerlich freundlich zu einander sind, einander Du sagen, Arm in Arm gehn. Als letzte Erinnerung an sie habe ich die ganz feindselige Grimasse, die sie machte, als ich mich im Flur ihres Hauses nicht mit dem Kuß auf ihren Handschuh begnügte, sondern ihn aufriß und ihre Hand küßte. Nun hat sie im übrigen, trotzdem sie die pünktliche Einhaltung des fernern Briefwechsels versprochen hatte, auf zwei Briefe mir nicht geantwortet, nur durch Telegramme Briefe versprochen, aber das Versprechen nicht gehalten, ja sie hat sogar nicht einmal meiner Mutter geantwortet. Das Aussichtlose dessen ist also wohl unzweifelhaft.

Das sollte man eigentlich niemals sagen dürfen. Schien von F. aus gesehn Dein früheres Verhalten nicht auch aussichtslos zu sein.

Es war etwas anderes. Ich gestand immer, selbst beim scheinbar letzten Abschied im Sommer, meine Liebe zu ihr offen ein; ich schwieg niemals mit dieser Grausamkeit; ich hatte Gründe für mein Verhalten, die sich, wenn nicht billigen, so doch besprechen ließen. F. hat bloß den Grund der gänzlich unzureichenden Liebe. Trotzdem ist es richtig, dass ich warten könnte. Mit einer doppelten Hoffnungslosigkeit warten kann ich aber nicht: einmal F. mir immer weiter entschwinden sehn und außerdem selbst in immer größere Unfähigkeit geraten, mich irgendwie zu retten. Es wäre das größte Wagnis, das ich mit mir versuchen könnte, trotzdem oder weil es allen übermächtigen schlechten Kräften in mir am meisten entsprechen würde. "Man kann niemals wissen, was geschehn wird" ist kein Argument gegenüber der Unerträglichkeit eines gegenwärtigen Zustandes.

Was willst Du also tun?

Von Prag weggehn. Gegenüber diesem stärksten menschlichen Schaden, der mich je getroffen hat, mit dem stärksten Reaktionsmittel, über das ich verfüge, vorgehn.

Den Posten verlassen?

Der Posten ist ja nach dem Obigen ein Teil der Unerträglichkeit. Ich verliere nur eine Unerträglichkeit. Die Sicherheit, das auf Lebensdauer Berechnete, der reichliche Gehalt, die nicht vollständige Anspannung der Kräfte - das sind doch lauter Dinge, mit denen ich als Junggeselle nichts anfangen kann, die sich zu Qualen verwandeln.

Was willst Du also tun?

Ich könnte alle derartigen Fragen mit einemmal beantworten, indem ich sage: ich habe nichts zu riskieren, jeder Tag und jeder geringste Erfolg ist ein Geschenk, alles was ich tue wird gut sein. Aber ich kann auch genauer antworten. Als österreichischer Jurist, der ich ja im Ernst gar nicht bin, habe ich keine für mich brauchbaren Aussichten; das beste, was ich für mich in dieser Richtung erreichen könnte, besitze ich ja in meiner Stelle und kann es doch nicht brauchen. Übrigens kämen für diesen an sich ganz unmöglichen Fall, dass ich aus meiner juristischen Vorbildung etwas für mich herausschlagen wollte, nur 2 Städte in Betracht: Prag aus dem ich weg muß, und Wien, das ich hasse und in dem ich unglücklich werden müßte, denn ich würde schon mit der tiefsten Überzeugung von der Notwendigkeit dessen hinfahren. Ich muß also außerhalb Österreichs und zwar, da ich kein Sprachentalent habe und körperliche sowie kaufmännische Arbeit nur schlecht leisten könnte, wenigstens zunächst nach Deutschland und dort nach Berlin, wo die meisten Möglichkeiten sind, sich zu erhalten. Dort kann ich auch im Journalismus meine schriftstellerischen Fähigkeiten am besten und unmittelbarsten ausnützen und einen mir halbwegs entsprechenden Gelderwerb finden. Ob ich etwa gar noch darüber hinaus fähig zu inspirierter Arbeit sein werde, darüber kann ich mich jetzt auch nicht mit der geringsten Sicherheit aussprechen. Das aber glaube ich bestimmt zu wissen, dass ich aus dieser selbstständigen und freien Lage, in der ich in Berlin sein werde, (sei sie im übrigen auch noch so elend) das einzige Glücksgefühl ziehen werde, dessen ich jetzt noch fähig bin.

Du bist aber verwöhnt

Nein, ich brauche ein Zimmer und vegetarische Pension, sonst fast nichts.

Fährst Du nicht F.'s wegen hin

Nein, ich wähle Berlin nur aus den obigen Gründen, allerdings liebe ich es auch und vielleicht liebe ich es wegen F. und wegen des Vorstellungskreises um F.; das kann ich nicht kontrollieren. Es ist auch wahrscheinlich, dass ich in Berlin mit F. zusammenkommen werde. Wird mir dieses Zusammensein dazu verhelfen, F. aus meinem Blut hinauszubekommen: desto besser, es ist dann ein weiterer Vorteil von Berlin.

Bist Du gesund?

Nein, Herz, Schlaf, Verdauung

Ein kleines Mietzimmer. Morgendämmerung. Unordnung. Der Student liegt im Bett, schläft der Wand zugekehrt.

Es klopft. Es bleibt still. Es klopft stärker. Der Student setzt sich erschreckt aufrecht, schaut zur Tür herein

Dienstmädchen (schwaches Mädchen): Guten Morgen

St. Was wollen Sie? Es ist ja Nacht.

D. Entschuldigen Sie. Ein Herr fragt nach Ihnen

S. Nach mir? (stockt) Unsinn! Wo ist er?

D. Er wartet in der Küche

S. Wie sieht er aus

D. (lächelt) Nun, es ist noch ein Junge, sehr schön ist er nicht, ich glaube es ist ein Jud

S. Und das will in der Nacht zu mir? Übrigens, hören Sie brauche ich nicht Ihr Urteil über meine Gäste. Und der soll

hereinkommen. Aber rasch!

Der Student stopft die kleine Pfeife, die auf dem Sessel neben seinem Bett gelegen ist und raucht.

Kleipe (steht an der Tür und schaut zum Student, der, die Augen zur Zimmerdecke gerichtet, ruhig vor sich hindampft.)

(klein, gerade, große, lange, etwas schief gedrehte, spitze Nase, dunkle Gesichtsfarbe, tiefliegende Augen, lange Arme)

St. Wie lange noch? Kommen Sie her zum Bett und sagen Sie was Sie wollen. Wer sind Sie? Was wollen Sie? Rasch! Rasch!

Kl. (geht sehr langsam zum Bett und sucht auf dem Weg durch Handbewegungen etwas zu erklären. Beim Reden hilft er sich durch Strecken des Halses und durch Hoch- und Tiefziehn der Augenbrauen) Ich bin nämlich auch aus Wulfenshausen

S. So; das ist schön, das ist sehr schön. Warum sind Sie denn nicht dort geblieben?

Kl. Überlegen Sie! Es ist unser beider Vaterstadt, schön, aber doch ein elendes Nest

Es war ein Sonntag nachmittag, sie lagen verschlungen im Bett. Es war im Winter, das Zimmer war ungeheizt, sie lagen unter einem schweren Federbett.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at