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[An Julie und Hermann Kafka]


[Marielyst, Juli 1914]
 

...Insoferne aber bin ich mit Berlin nicht fertig, als ich glaube, dass mich diese ganze Sache zu euerem und zu meinem Wohle (denn die sind ganz gewiß eines) hindert, so weiter zu leben wie bisher. Seht, ein wirklich schweres Leid habe ich euch vielleicht noch nicht gemacht, es müßte denn sein, dass diese Entlobung ein solches ist, von der Ferne kann ich es nicht so beurteilen. Aber eine wirkliche dauernde Freude habe ich euch noch viel weniger gemacht und das, glaubt mir, nur aus dem Grunde, weil ich selbst mir diese Freude nicht dauernd machen konnte. Warum das so ist, wirst gerade Du, Vater, obwohl Du das Eigentliche, was ich will, nicht anerkennen kannst, am leichtesten verstehn. Du erzählst manchmal, wie schlecht es Dir in Deinen ersten Anfängen gegangen ist. Glaubst Du nicht, dass das eine gute Erziehung zur Selbstachtung und Zufriedenheit war? Glaubst Du nicht, übrigens hast Du es auch schon geradezu gesagt, dass es mir zu gut gegegangen ist? Ich bin bis jetzt durchaus in Unselbständigkeit und äußerlichem Wohlbehagen aufgewachsen. Glaubst Du nicht, dass das für meine Natur gar nicht gut gewesen ist, so gütig und lieb es auch von allen war, die dafür sorgten? Gewiß es gibt Menschen, die sich ihre Selbständigkeit überall zu sichern verstehn, ich gehöre aber nicht zu ihnen. Allerdings gibt es auch Menschen, die ihre Unselbständigkeit nirgends verlieren, aber nachzuprüfen, ob ich zu diesen doch nicht gehöre, scheint mir kein Versuch zu schade. Auch der Einwand, dass ich zu einem solchen Versuch zu alt bin, gilt nicht. Ich bin jünger, als es den Anschein hat. Es ist die einzig gute Wirkung der Unselbständigkeit, dass sie jung erhält. Allerdings nur dann, wenn sie ein Ende nimmt.

Im Bureau werde ich aber diese Besserung niemals erreichen können. Überhaupt in Prag nicht. Hier ist alles darauf angelegt, mich, den im Grunde nach Unselbständigkeit verlangenden Menschen, darin zu erhalten. Es wird mir alles so nahe angeboten. Das Bureau ist mir sehr lästig und oft unerträglich, aber im Grunde doch leicht. Ich verdiene auf diese Weise mehr als ich brauche. Wozu? Für wen? Ich werde auf der Gehaltsleiter weitersteigen. Zu welchem Zweck? Mir ist diese Arbeit nicht entsprechend und bringt sie mir nicht einmal Selbständigkeit als Lohn, warum werfe ich sie nicht weg? Ich habe nichts zu riskieren und alles zu gewinnen, wenn ich kündige und von Prag fortgehe. Ich riskiere nichts, denn mein Leben in Prag führt zu nichts Gutem. Ihr vergleicht mich manchmal zum Spaß mit Onkel R. Aber gar zu weit führt mich mein Weg von ihm nicht ab, wenn ich in Prag bleibe. Ich werde voraussichtlich mehr Geld, mehr Interessen und weniger Glauben haben als er, ich werde dementsprechend unzufriedener sein, viel mehr Unterschiede wird es kaum geben. - Ich kann außerhalb Prags alles gewinnen, das heißt ich kann ein selbständiger ruhiger Mensch werden, der alle seine Fähigkeiten ausnützt und als Lohn guter und wahrhaftiger Arbeit das Gefühl wirklichen Lebendigseins und dauernder Zufriedenheit bekommt. Ein solcher Mensch wird sich - es wird nicht der kleinste Gewinn sein - auch zu euch besser stellen. Ihr werdet einen Sohn haben, dessen einzelne Handlungen ihr vielleicht nicht billigen werdet, mit dem ihr aber im Ganzen zufrieden sein werdet, denn ihr werdet euch sagen müssen: 'Er tut, was er kann.' Dieses Gefühl habt ihr heute nicht, mit Recht.

Die Ausführung meines Planes denke ich mir so: Ich habe fünftausend Kronen. Sie ermöglichen mir, irgendwo in Deutschland in Berlin oder München zwei Jahre, wenn es sein muß, ohne Geldverdienst zu leben. Diese zwei Jahre ermöglichen mir, literarisch zu arbeiten und das aus mir herauszubringen, was ich in Prag zwischen innerer Schlaffheit und äußerer Störung in dieser Deutlichkeit, Fülle und Einheitlichkeit nicht erreichen könnte. Diese literarische Arbeit wird es mir ermöglichen, nach diesen zwei Jahren von eigenem Verdienst zu leben und sei es auch noch so bescheiden. Sei es aber auch noch so bescheiden, es wird unvergleichlich sein zu dem Leben, das ich jetzt in Prag führe und das mich dort für späterhin erwartet. Ihr werdet einwenden, dass ich mich in meinen Fähigkeiten und in der durch diese Fähigkeiten zu bildenden Erwerbsmöglichkeit täusche. Gewiß, das ist nicht ausgeschlossen. Nur spricht dagegen, dass ich einunddreißig Jahre alt bin und derartige Täuschungen in einem solchen Alter nicht in Rechnung gezogen werden können, sonst wäre jedes Rechnen unmöglich, ferner spricht dagegen, dass ich schon einiges, wenn auch wenig, geschrieben habe, das halbwegs Anerkennung gefunden hat, endlich aber wird der Einwand dadurch aufgehoben, dass ich durchaus nicht faul und ziemlich bedürfnislos bin und daher, wenn auch eine Hoffnung mißlingen sollte, eine andere Erwerbsmöglichkeit finden und jedenfalls euch nicht in Anspruch nehmen werde, denn das wäre allerdings sowohl in der Wirkung auf mich als auf euch noch viel ärger als das gegenwärtige Leben in Prag, ja es wäre gänzlich unerträglich.

Meine Lage scheint mir danach klar genug zu sein, und ich bin begierig, was ihr dazu sagen werdet. Denn wenn ich auch die Überzeugung habe, dass es das einzig Richige ist und dass ich, wenn ich die Ausführung dieses Planes versäume, etwas Entscheidendes versäume, - so ist es mir doch natürlich sehr wichtig zu wissen, was ihr dazu sagt.

Mit den herzlichsten Grüßen Euer Franz.




Text nach FK 131 - 133. Einige Überlegungen dieses Brieffragments kehren (sogar bis in einzelne Formulierungen) im fünf Jahre später geschriebenen Brief an den Vater wieder. Der Plan den Kafka vorträgt, war einer der vielen, von Prag loszukommen.


Unselbständigkeit: Vgl. den längeren Tagebucheintrag vom 9. März 1914 (T 364 ff.), in Teilen förmlich schon ein Entwurf dieses Briefes.


mehr als ich brauche: Vgl. F 630 und 633.


Onkel R.: Onkel Rudolf Löwy (Stiefbruder der Mutter, Buchhalter am Košiřer Bräuhaus, der merkwürdigste und verschlossenste Okel Kafkas, Jungeselle, konvertierte und entwickelte sich, wie Kafka schreibt, immer mehr zu einem "unenträtselbaren, überfreundlichen, überbescheidenen, einsamen und dabei fast geschwätzigen Menschen". (Br 361, vgl. 415, T 199 u. 558 f.)


und sei es auch noch so bescheiden: Ein Plan offenbar seit 1912, vgl. T 489 und F 535.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at