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An Grete Bloch

[16. oder 17.Juni 1914]
 


Liebes Fräulein Grete, nur paar Zeilen, in einem schönen Park geschrieben, das Rauschen eines Springbrunnens und den friedlichen Lärm der Kinder im Ohr. Was bedeutet das, ich bekomme Sinn für die Vergnügungen ganz alter Ehepaare, für den Blick über Rasenflächen, das Stillsitzen in der Abendsonne, das Beobachten von Spatzen. Mein Kopf, der nun 4 Nächte - es war schon viel besser - fast keinen Schlaf bekommen hat, beruhigt sich ein wenig. Und wie lebe ich? Sie sitzen im Bureau und klopfen Ihren Schülern auf die Finger, während ich - heute war ein besonderer Schontag - eine Stunde, allerdings nutzlos, zu schlafen versucht habe, dann auf der Schwimmschule war, geschwommen, dann geturnt habe, dann nach einem Spaziergang in einer Milchhalle sauere Milch getrunken habe und jetzt im Park sitze und Ihnen schreibe. Könnte mich ein Kindermädchen besser pflegen, als ich es tue? Und in der Nacht? In der Nacht werde ich 2-3 Stunden federleicht unter häufigem Erschrecken schlafen und dann endgiltig aufwachen, augenblicksweise vielleicht noch das halbe Bewußtsein verlieren, aber einschlafen gar nicht mehr und pünktlich durch alle Uhrenschläge vom Turm her daran erinnert werden, dass die Zeit vergeht, dass nach der schrecklichen Nacht der schreckliche Morgen kommt u.s.f. Wie blödsinnig ich klage! Und weiß doch gut, dass es vorübergehn muß und dass ich daran noch nicht zugrunde gehen werde.

Heute abend komme ich übrigens besonders spät ins Bett. Dr. Weiß kommt, wie er mir gestern geschrieben hat, heute um 11 Uhr aus Berlin. Es ist mir ein wenig unheimlich. Er wollte nach Prag kommen, aber erst Anfang Juli, nun kommt er so plötzlich. Was tue ich, wenn er wegen meiner Nachrichten kommt. Es wäre nicht unmöglich, aber für mich scheußlich.

Das hätte also wieder der Klagemensch in mir verursacht, so wie er - das Gewissen brannte mich den ganzen Tag und hat heute über Ihren Briefen wieder zu brennen angefangen - auch Ihre gestrige Unruhe verursacht hat. Wie erträgt nur Gott diese Klagen? Warum schlägt er mich nicht nieder? Aber - so sagt wieder der Klagemensch in mir - er schlägt mich ja nieder.

Ja, Erna werde ich nun .doch ganz bestimmt schreiben. Ich wollte auch gern Erna und Toni etwas schenken. Es ist wieder meine Schwäche, die den Menschen geradezu anzupacken nicht imstande ist, so sehr sie es wünscht, und sich also damit begnügen muß, ihn mit Geschenken zu umgehn. Erna will ich ein Buch geben, für Toni wollte F. in meinem Namen etwas kaufen und schenken, hat es aber offenbar vergessen und vergißt es nun wahrscheinlich absichtlich noch während sie die Briefe liest, in denen ich sie daran erinnere. Können Sie mir einen Rat geben? Sie sind doch nun einmal meine Ratgeberin im großen und kleinen.

Aber jetzt ist schon spät, ich beendige meine heutige Licht- Luft- und Wasserbehandlung, stecke den Bleistift ein und wandere nachhause.


Herzlichste Grüße Ihr FranzK.


Wollten Sie mir nicht noch etwas von Ihrem Bruder schicken? Was bedeutet die Klage über den dummen Wochenanfang? - Die Briefe liest natürlich niemand mehr mit und wird niemand mehr lesen.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at