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An Felice Bauer

29. IV. 14
 


Du mißverstehst mich, F. Was Du mir über den Breslauer Bekannten schreibst, kümmert mich gar nicht; wie er heißt, wie er verheiratet ist, kümmert mich gar nicht; er selbst kümmert mich ja überhaupt nicht.

Über Deinen Bruder scheinst Du also mittelbar befriedigende Nachricht bekommen zu haben. Das freut mich um unser aller willen.

Ich hatte erwartet, dass Du mir schon den bestimmten Tag Deiner Ankunft wirst nennen können. Wenn Du nicht Freitag kommst, ist die eine Wohnung verloren. Die Wohnung ohne Dich zu nehmen, möchte ich nicht verantworten wollen, denn das, was an der Wohnung Dir gefiele, müßte den Ausgleich für die Nachteile bilden, die sich dadurch für Dich ergeben würden, dass die Wohnung ziemlich weit von der Mitte der Stadt liegt, dass Du unter lauter Tschechen wärest und einiges dergleichen. Suche also Dein Kommen möglich zu machen. Ich werde mir morgen noch andere Wohnungen in einer andern vielleicht bequemer liegenden Gegend anschauen, damit Du dann ohne zu große Mühe das Beste wählen kannst. Gestern habe ich eine Wohnung mit 3 Zimmern gesehn, die nur 700 K kostet, mitten in der Stadt, gleich hinter dem Museum, das den Wenzelsplatz oben abschließt. Eine Wohnung, wie man sie manchmal in Angstträumen bewohnt. Schon auf der Treppe kämpft man mit verschiedenen Gerüchen, man muß durch die finstere Küche eintreten, in einem Winkel weint ein Haufen Kinder, ein vergittertes Fenster hat Blei- und Glasglanz, das Ungeziefer wartet in seinen Löchern auf die Nacht. Das Leben in solchen Wohnungen kann man fast nur als Wirkung eines Fluches verstehn. Hier wird nicht gearbeitet, gearbeitet wird anderswo, hier wird nicht gesündigt, gesündigt wird anderswo, hier will man nur leben und kann es kaum. Wir sollten uns nicht nur Wohnungen ansehn, die wünschenswert sind, wir sollten einmal zusammen auch eine solche Wohnung ansehn, Felice.

F.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at