Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Lise Weltsch

[Prag,] 18. V. 14
 

Liebes Fräulein,

ein zerschnittener Daumen hat mich gehindert, Ihnen in lesbarer Schrift früher für Ihren freundlichen Brief zu danken. Es überrascht mich nicht, dass Sie sich rasch eingelebt haben. Es wäre sogar ganz bestimmt auch ohne Freunde geglückt. Und es ist doch wunderbar von zuhause wegzukommen, auch wenn Sie es leugnen. Das kann nur ein Außenstehender im Augenblick beurteilen und der, welcher im Wunderbaren steckt, muß es ihm glauben, auch wenn er es noch nicht fühlen kann, denn es dringt ja erst in ihn ein.

Ich hatte es mir im ersten Augenblick gar nicht recht überlegt, dass Sie gleich in einen großen Kreis von Menschen kommen werden, mit denen Sie so vielerlei und so Wichtiges verbindet, dass Sie kaum Zeit und jedenfalls keine Notwendigkeit haben, gleich und sei es auch mit irgendwelchen kleinen Umständlichkeiten verknüpft, mit fremden Menschen zusammenzukommen. Es wird Sie wohl zunächst genug, allerdings durchaus gesunde, Anstrengung kosten, sich mit den notwendigen Bekannten auseinanderzusetzen. Hätte ich das nicht eingesehen, so hätte ich Ihnen wohl auch mit blutendem Daumen geschrieben.

Trotzdem würde ich Sie, wenn Sie es ermöglichen könnten, Pfingsten sehr gerne sehn: Aber Sie machen wohl, wenn Sie nicht in Prag sind, irgendeinen Ausflug und sind dann auch in Berlin nicht. Ich komme Samstag vor Pfingstsonntag hin und bleibe bis Dienstag nachmittag. Sind Sie telephonisch erreichbar? Dann wäre es wohl das Beste, ich rufe Sie Pfingstsonntag vormittag an und frage.

Mit den herzlichsten Grüßen

Ihr F. Kafka


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at