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[Tagebuch, 20. Dezember 1913; Samstag]

20 (Dezember 1913) kein Brief

Die Wirkung eines friedlichen Gesichts, einer ruhigen Rede, besonders von einem fremden, noch nicht durchschauten Menschen. Die Stimme Gottes aus einem menschlichen Mund

Ein alter Mann gieng an einem Winterabend im Nebel durch die Gassen. Es war eiskalt. Die Gassen waren leer. Kein Mensch kam nahe an ihm vorüber, nur hie und da sah er in der Ferne halb im Nebel einen großen Polizeimann oder eine Frau in Pelzwerk oder Tüchern. Ihn kümmerte nichts, er dachte nur daran einen Freund zu besuchen, bei dem er schon lange nicht gewesen war und der ihn gerade jetzt durch ein Dienstmädchen hatte holen lassen.

Es war schon weit nach Mitternacht, als es an die Zimmertür des Kaufmanns Messner leise klopfte. Er mußte nicht geweckt werden, er schlief immer erst gegen Morgen ein, bis dahin aber pflegte er bäuchlings wach im Bett zu liegen, das Gesicht ins Kissen gedrückt, die Arme ausgestreckt und die Hände über dem Kopf verschlungen. Er hatte das Klopfen gleich gehört "Wer ist es?" fragte er. Ein unverständliches Murmeln, leiser als das Klopfen antwortete. Es ist offen sagte er und drehte das elektrische Licht auf. Ein kleines schwaches Frauenzimmer in einem großen grauen Umhängetuch trat ein.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at