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[Tagebuch, 10. Dezember 1913; Mittwoch]

10 XII (1913) Die Entdeckungen haben sich dem Menschen aufgedrängt.

Das lachende, jungenhafte, listige, aufgelöste, Gesicht des Oberinspektors, das ich noch nie an ihm gesehen hatte und nur heute in einem Augenblick bemerkte, als ich eine Arbeit des Direktors ihm vorlas und zufällig von ihr aufsah. Er steckte dabei auch mit einem Ruck der Schultern die rechte Hand in die Hosentasche, als wäre er ein anderer Mensch.

Niemals ist es möglich alle Umstände zu bemerken und zu beurteilen, die auf die Stimmung eines Augenblicks einwirken und sogar in ihr wirken und endlich in der Beurteilung wirken, darum ist es falsch zu sagen, gestern fühlte ich mich gefestigt, heute bin ich verzweifelt. Solche Unterscheidungen beweisen nur, dass man Lust hat, sich zu beeinflussen und möglichst abgesondert von sich, versteckt hinter Vorurteilen und Phantasien zeitweilig ein künstliches Leben aufzuführen, so wie sich einmal einer in einem Winkel der Schenke, von einem kleinen Schnapsglas genügend versteckt, ausschließlich mit sich allein mit lauter falschen unbeweisbaren Vorstellungen und Träumen unterhält.

Gegen Mitternacht stieg die Treppe zu der kleinen Singspielhalle ein junger Mann in einem engen mattgrauen karrierten leicht überschneiten Überzieher hinab. Er bezahlte am Kassentisch, hinter dem ein hindämmerndes Fräulein aufschreckte und ihn mit großen schwarzen Augen geradeaus ansah, und blieb dann ein Weilchen stehn um den Saal, der 3 Stufen tief unter ihm lag zu überblicken.

Fast jeden Abend gehe ich auf den Staatsbahnhof, heute, weil es regnete, gieng ich 1/2 Stunde in der Halle dort auf und ab. Der Bursch, der immerfort das Zuckerzeug aus den Automaten aß. Der Handgriff in die Tasche, aus der er eine Menge Kleingeld holt, das nachlässige Einwerfen in die Öffnung, das Lesen der Aufschriften während des Essens, das Hinunterfallen von einzelnen Stücken, die er vom schmutzigen Boden aufhebt und geradewegs in den Mund steckt. - Der ruhig kauende Mann, der am Fenster vertraulich mit einer Frau, einer Verwandten spricht.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at