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[Tagebuch, 19. November 1913; Mittwoch]

19 (November 1913)

Mich ergreift das Lesen des Tagebuchs. Ist der Grund dessen, dass ich in der Gegenwart jetzt nicht die geringste Sicherheit mehr habe. Alles erscheint mir als Konstruktion. Jede Bemerkung eines andern, jeder zufällige Anblick wälzt alles in mir, selbst Vergessenes, ganz und gar Unbedeutendes, auf eine andere Seite. Ich bin unsicherer als ich jemals war, nur die Gewalt des Lebens fühle ich. Und sinnlos leer bin ich. Ich bin wirklich wie ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft. So verloren zu sein und nicht die Kraft haben, es zu beklagen.

Ich gehe absichtlich durch die Gassen, wo Dirnen sind. Das Vorübergehn an ihnen reizt mich, diese ferne aber immerhin bestehende Möglichkeit mit einer zu gehn. Ist das Gemeinheit? Ich weiß aber nichts besseres und das Ausführen dessen scheint mir im Grunde unschuldig und macht mir fast keine Reue. Ich will nur die dicken ältern, mit veralteten aber gewissermaßen durch verschiedene Behänge üppigen Kleidern. Eine Frau kennt mich wahrscheinlich schon. Ich traf sie heute nachmittag, sie war noch nicht in Berufskleidung, die Haare lagen noch am Kopf an, sie hatte keinen Hut, eine Arbeitsbluse wie Köchinnen und trug irgendeinen Ballen vielleicht zur Wäscherin. Kein Mensch hätte etwas Reizendes an ihr gefunden, nur ich. Wir sahen einander flüchtig an. Jetzt abend, es ist inzwischen kalt geworden, sah ich sie in einem anliegenden, gelblich braunen Mantel auf der andern Seite der engen von der Zeltnergasse abzweigenden Gasse,, wo sie ihre Promenade hat. Ich sah zweimal nach ihr zurück, sie faßte auch den Blick, aber dann lief ich ihr eigentlich davon.

Die Unsicherheit geht gewiß von den Gedanken an F. aus.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at