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[Tagebuch, 21. August 1913; Donnerstag]

21 VIII 13

Ich habe heute Kierkegaard Buch des Richters bekommen. Wie ich es ahnte, ist sein Fall trotz wesentlicher Unterschiede dem meinen sehr ähnlich zumindest liegt er auf der gleichen Seite der Welt. Er bestätigt mich wie ein Freund. Ich entwerfe folgenden Brief an den Vater, den ich morgen wenn ich die Kraft habe, wegschicken will.

Sie zögern mit der Beantwortung meiner Bitte, das ist ganz verständlich, jeder Vater würde es jedem Bewerber gegenüber tun, das veranlaßt diesen Brief also ganz und gar nicht, äußersten Falls vergrößert es meine Hoffnung auf ruhige Würdigung dieses Briefes. Diesen Brief aber schreibe ich aus Furcht, dass Ihr Zögern oder Ihre Überlegung mehr allgemeine Gründe hat, als dass es, wie es allein notwendig wäre, von jener einzigen Stelle meines ersten Briefes ausgeht, die mich verraten konnte. Es ist dies die Stelle, die von der Unerträglichkeit meines Postens handelt.

Sie werden vielleicht über dieses Wort hinweggehn, aber das sollen Sie nicht, Sie sollen vielmehr ganz genau danach fragen, dann müßte ich Ihnen genau und kurz folgendes antworten. Mein Posten ist mir unerträglich, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf das ist der Litteratur widerspricht. Da ich nichts anderes bin als Litteratur und nichts anderes sein kann und will, so kann mich mein Posten niemals zu sich reißen, wohl aber kann er mich gänzlich zerrütten. Davon bin ich nicht weit entfernt. Nervöse Zustände schlimmster Art beherrschen mich, ohne auszusetzen und dieses Jahr der Sorgen und Quälereien um meine und Ihrer Tochter Zukunft hat meine Widerstandlosigkeit vollständig erwiesen. Sie könnten fragen, warum ich diesen Posten nicht aufgebe und mich - Vermögen besitze ich nicht - nicht von litterarischen Arbeiten zu erhalten suche. Darauf kann ich nur die erbärmliche Antwort geben, dass ich nicht die Kraft dazu habe und, soweit ich meine Lage überblicke, eher in diesem Posten zugrundegehen, aber allerdings rasch zugrundegehen werde.

Und nun stellen Sie mich Ihrer Tochter gegenüber, diesem gesunden, lustigen, natürlichen kräftigen Mädchen. So oft ich es ihr auch in etwa 500 Briefen wiederholte und so oft sie mich mit einem allerdings nicht überzeugend begründeten "Nein" beruhigte - es bleibt doch wahr, sie muß mit mir unglücklich werden, so weit ich es absehn kann. Ich bin nicht nur durch meine äußerlichen Verhältnisse, sondern noch viel mehr durch mein eigentliches Wesen ein verschlossener, schweigsamer ungeselliger unzufriedener Mensch, ohne dies aber für mich als ein Unglück bezeichnen zu können, denn es ist nur der Widerschein meines Zieles. Aus meiner Lebensweise, die ich zuhause führe, lassen sich doch wenigstens Schlüsse ziehn. Nun ich lebe in meiner Familie, unter den besten und liebevollsten Menschen, fremder als ein Fremder. Mit meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durchschnittlich nicht zwanzig Worte täglich gesprochen, mit meinem Vater kaum jemals mehr als Grußworte gewechselt. Mit meinen verheirateten Schwestern und den Schwägern, spreche ich gar nicht, ohne etwa mit ihnen böse zu sein. Der Grund dessen ist einfach der, dass ich mit ihnen nicht das aller Geringste zu sprechen habe. Alles was nicht Litteratur ist, langweilt mich und ich hasse es, denn es stört mich oder hält mich auf, wenn auch nur vermeintlich. Für Familienleben fehlt mir daher jeder Sinn außer der des Beobachters im besten Fall. Verwandtengefühl habe ich keines, in Besuchen sehe ich förmlich gegen mich gerichtete Bosheit.

Eine Ehe könnte mich nicht verändern, ebenso wie mich mein Posten nicht verändern kann.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at