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[Tagebuch, 28. Februar 1913; Freitag]

28. II(1913) Ernst Liman kam auf einer Geschäftsreise am Morgen eines regnerischen Herbsttages in Konstantinopel an und fuhr nach seiner Gewohnheit - er machte diese Reise schon zum zehnten Mal - ohne sich um irgendetwas sonst zu kümmern durch die im übrigen leeren Gassen zu dem Hotel, in dem er zu seiner Zufriedenheit stets zu wohnen pflegte. Es war fast kühl, der Sprühregen flog in den Wagen herein und ärgerlich über das schlechte Wetter, das ihn während der ganzen diesjährigen Geschäftsreise verfolgte, zog er das Wagenfenster in die Höhe und lehnte sich in eine Ecke, um die etwa 1/4 stündige Wagenfahrt, die ihm bevorstand, zu verschlafen. Da ihn aber die Fahrt gerade durch das Geschäftsviertel führte kam er zu keiner Ruhe und die Ausrufe der Straßenverkäufer, das Rollen der Lastfuhren, wie auch anderer ohne nähere Untersuchung sinnloser Lärm z. B. das Händeklatschen einer Volksmenge störte seinen sonst festen Schlaf.

Am Ziel seiner Fahrt erwartete ihn eine unangenehme Überraschung. Bei dem letzten großen Brand in Stambul, von dem Liman auf der Reise wohl gelesen hatte, war das Hotel Kingston, in dem er eben zu wohnen pflegte, fast vollständig niedergebrannt, der Kutscher aber, der dies naturlich gewußt hatte, hatte mit vollständiger Gleichgültigkeit gegen seinen Passagier dessen Auftrag dennoch ausgeführt und ihn stillschweigend zu der Brandstätte des Hotels gebracht. Nun stieg er ruhig vom Bock und hätte auch noch die Koffer Limans abgeladen, wenn ihn nicht dieser bei der Schulter gepackt und geschüttelt hätte, worauf dann der Kutscher allerdings von den Koffern abließ, aber so langsam und verschlafen als hätte nicht Liman ihn davon abgebracht, sondern sein eigener geänderter Entschluß.

Das Erdgeschoß des Hotels war noch zum Teil erhalten und durch Lattenverschläge oben und auf allen Seiten leidlich bewohnbar gemacht worden. Eine türkische und eine französische Aufschrift zeigte an, dass das Hotel in kurzer Zeit schöner und moderner als früher wieder aufgebaut werden sollte. Doch war das einzige Anzeichen dessen die Arbeit dreier Taglöhner, welche mit Schaufeln und Haken abseits Schutt aufhäuften und einen kleinen Handkarren damit beluden.

Wie sich zeigte, wohnte in diesen Trümmern ein Teil des durch den Brand arbeitslos gewordenen Hotelpersonales. Ein Herr im schwarzen Gehrock und hochroter Kravatte kam auch sofort, als Limans Wagen angehalten hatte, herausgelaufen, erzählte dem verdrießlich zuhörenden Liman die Geschichte des Brandes, wickelte dabei die Enden seines langen dünnen Bartes um seine Finger und ließ davon nur ab, um Liman zu zeigen, wo der Brand entstanden war, wie er sich verbreitet hatte und wie endlich alles zusammengebrochen war. Liman der während dieser ganzen Geschichte kaum die Blicke vom Boden abgewendet und die Klinke der Wagentür nicht losgelassen hatte, wollte gerade dem Kutscher den Namen eines andern Hotels zurufen, in das er ihn fahren sollte, als der Mann im Gehrock ihn mit erhobenen Armen bat, in kein anderes Hotel zu gehn, sondern diesem Hotel, in dem er doch immer zufrieden gewesen war, treu zu bleiben. Trotzdem dies gewiß nur eine leere Redensart war und niemand sich an Liman erinnern konnte, wie auch Liman kaum einen der männlichen und weiblichen Angestellten, die er in der Tür und in den Fenstern erblickte, wiedererkannte, so fragte er doch, als ein Mensch, dem seine Gewohnheiten lieb sind, auf welche Weise er denn augenblicklich dem abgebrannten Hotel treu bleiben solle. Nun erfuhr er - und mußte unwillkürlich über die Zumutung lächeln - dass für frühere Gäste dieses Hotels, aber nur für solche, schöne Zimmer in Privatwohnungen vorbereitet seien, Liman müsse nur befehlen und er werde sofort hingeführt werden, es sei ganz in der Nähe er werde keinen Zeitverlust haben und der Preis sei aus Gefälligkeit und da es sich ja doch um einen Ersatz handle ganz besonders niedrig, wenn auch das Essen nach Wiener Recepten womöglich noch besser, und die Bedienung noch sorgfältiger sei als in dem frühernin mancher Beziehung doch unzureichendem Hotel Kingston.

"Danke" sagte Liman und stieg dabei in den Wagen. "Ich bleibe in Konstantinopel nur 5 Tage, für diese Zeit werde ich mich doch nicht in einer Privatwohnung einrichten, nein ich fahre in ein Hotel. Nächstes Jahr aber, wenn ich wiederkomme und ihr Hotel wieder aufgebaut ist, werde ich gewiß nur bei ihnen absteigen. Erlauben Sie!" Und Liman wollte die Wagentüre zuziehn, deren Klinke nun der Vertreter des Hotels ergriffen hatte. "Herr! " sagte dieser bittend und sah zu Liman auf.

"Loslassen! " rief Liman, rüttelte an der Tür und gab dem Kutscher den Befehl: "Ins Hotel Royal." Aber sei es dass der Kutscher ihn nicht verstand, sei es dass er auf das Schließen der Türe wartete, jedenfalls saß er auf seinem Bock wie eine Statue. Der Vertreter des Hotels aber, ließ die Tür durchaus nicht los, ja er winkte sogar seinen Kollegen eifrig zu, sich doch zu rühren und ihm zur Hilfe zu kommen. Besonders von irgendeinem Mädchen erhoffte er viel und rief immer wieder "Fini! also Fini! Wo ist denn Fini?" Die Leute an den Fenstern und in der Türe hatten sich in das Innere des Hauses gewendet, sie riefen durcheinander, man sah sie an den Fenstern vorüberlaufen alle suchten Fini

Liman hätte wohl den Mann, der ihn am Wegfahren hinderte und dem offenbar nur der Hunger den Mut zu einem solchen Benehmen gab, mit einem Stoß von der Tür entfernen können, - das sah der Mann auch ein und wagte deshalb gar nicht Liman anzusehn - aber Liman hatte auf seinen Reisen schon zu viele schlechte Erfahrungen gemacht, um nicht zu wissen, wie wichtig es ist, in der Fremde und sei man noch so sehr im Recht jedes Aufsehen zu vermeiden, er stieg deshalb ruhig nochmals aus dem Wagen, ließ vorläufig den Mann, der krampfhaft die Türe hielt, unbeachtet, gieng zum Kutscher, wiederholte ihm seinen Auftrag, gab ihm noch ausdrücklich den Befehl rasch von hier wegzufahren, trat dann zu dem Mann an der Wagentüre, faßte seine Hand scheinbar mit gewöhnlichem Griff, drückte sie aber im Geheimen so stark im Gelenk, dass der Mann mit dem Schrei "Fini" der gleichzeitig Befehl und Ausbruch seines Schmerzes war fast aufsprang und die Finger von der Klinke löste.

"Sie kommt schon! Sie kommt schon! " rief es da von allen Fenstern und ein lachendes Mädchen die Hände noch an der knapp fertig gewordenen Frisur, lief mit halb geneigtem Kopf aus dem Hause auf den Wagen zu. "Rasch! In den Wagen! Es gießt ja" rief sie, indem sie Liman an den Schultern faßte und ihr Gesicht ganz nahe an seines hielt. "Ich bin Fini" sagte sie dann leise und ließ die Hände streichelnd seine Schultern entlang fahren.

"Man meint es ja nicht gerade schlecht mit mir" sagte sich Liman und sah lächelnd das Mädchen an "schade dass ich kein Junge mehr bin und mich auf unsichere Abenteuer nicht einlasse. " "Es muß ein Irrtum sein, Fräulein" sagte er und wandte sich seinem Wagen zu "ich habe sie weder rufen lassen, noch beabsichtige ich mit ihnen wegzufahren." Vom Wagen aus fügte er noch hinzu: Bemühen Sie sich nicht weiter.

Aber Fini hatte schon einen Fuß auf das Trittbrett gesetzt und sagte die Arme über ihrer Brust gekreuzt: "Warum wollen Sie sich denn von mir nicht eine Wohnung empfehlen lassen?" Müde der Belästigungen, die er hier schon ausgestanden hatte, sagte Liman sich zu ihr herausbeugend: "Halten Sie mich bitte nicht länger mit unnützen Fragen auf! Ich fahre ins Hotel und damit genug. Geben Sie Ihren Fuß vom Trittbrett herunter, sonst kommen Sie in Gefahr. Vorwärts Kutscher! " "Halt" rief aber das Mädchen und wollte sich nun ernstlich in den Wagen schwingen. Liman stand kopfschüttelnd auf und verstellte mit seiner gedrungenen Gestalt die ganze Tür. Das Mädchen suchte ihn fortzustoßen und gebrauchte hiezu auch den Kopf und die Knie, der Wagen fieng auf seinen elenden Federn zu schaukeln an, Liman hatte keinen rechten Halt: Warum wollen Sie mich denn nicht mitnehmen? Warum wollen Sie mich denn nicht mitnehmen? wiederholte das Mädchen immerfort. Gewiß wäre es Liman gelungen, das allerdings kräftige Mädchen wegzudrängen, ohne ihr besondere Gewalt anzutun, wenn nicht der Mann im Gehrock, der sich bisher, als sei er von Fini abgelöst ruhig verhalten hatte, nun als er Fini wanken sah, mit einem Sprung hinzugeeilt wäre, Fini hinten gehalten und gegenüber Limans immerhin schonender Abwehr mit dem Einsetzen aller Kraft das Mädchen in den Wagen zu heben versucht hätte. Im Gefühl dieses Rückhaltes drang sie auch tatsächlich in den Wagen, zog die Tür zu, die überdies von außen auch zugestoßen wurde, sagte wie für sich "Nun also" und ordnete zuerst flüchtig ihre Bluse und dann gründlicher die Frisur. "Das ist unerhört" sagte Liman, der auf seinen Sitz zurückgefallen war, zu dem ihm gegenübersitzenden Mädchen.

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