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[An Ottla Kafka: Zwei Ansichtspostkarten, fortlaufend beschrieben: S. Virgilio, Lago di Garda und Lago di Garda, Isola Garda e Monte Baldo]


[Stempel: Riva - 24. IX. 13]
 

Sei mir Ottla nicht bös, dass ich Dir bisher so wenig geschrieben habe, weißt Du, auf der Reise bin ich zerstreut und habe noch weniger Lust zum Schreiben als sonst. Jetzt aber, da ich ruhig im Sanatorium bin, werde ich Dir schon schreiben oder vielmehr nur Karten schicken, denn zu erzählen habe ich, wie immer, nur wenig und das wenige läßt sich nicht einmal schreiben, das werde ich Dir später einmal im Badezimmer erzählen. Im übrigen könntest Du mir einen Gefallen machen. Hol' bei Taussig "das Buch des Jahres 1913" es ist ein Katalog, den man umsonst bekommt und der bis ich zurückkomme, schon vergriffen sein dürfte, ich hätte ihn aber gerne. Viele Grüße an alle. Franz

Ich habe schon lange keine Nachricht von Euch.




Am 6. September 1913 fuhr Kafka gemeinsam mit seinem Dienstvorgesetzten Direktor Marschner zum "Internationalen Kongreß für Rettungswesen und Unfallverhütung" nach Wien, wo er auch den XI. Zionisten-Kongreß besuchte. Am 14. dieses Monats reiste er über Triest für einige Tage nach Venedig, von dort über Verona und Desenzano (Lago di Garda) ins Sanatorium Dr. von Hartungen, wo er vom 22. September bis zum 13. Oktober blieb. Zur Bedeutung dieses Urlaubs vgl. auch H. Binder, "Der Jäger Gracchus". Zu Kafkas Schaffensweise und poetischer Topographie, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 15 (1971), S. 375 ff.


zerstreut: Aus Venedig schrieb Kafka an Max Brod: "... ich bin nicht imstande zusammenhängend etwas Zusammenhägendes zu schreiben. Die Tage in Wien möchte ich aus meinem Leben am liebsten ausreißen und zwar von der Wurzel aus ... allerdings war ich durch manches beengt und zerstreut gewesen". (Br 120 vgl. die Anmerkungen zu Nr. 13)


das weinige läßt s5ch nicht einmal schreiben: Anspielung auf die Begegnung mit der "Schweizerin" G. W. Vgl. T 324.


Badezimmer: In der elterlichen Wohnung in der Niklasstraße 36 der traditionelle Treffpunkt der Geschwister. Vgl. Br 119, T 309, Nr. 85 und 96.


Taussig: Der vollständige Firmenname lautete: "Akademisches Antiquariat, Buch-, Kunst- und Musikalienhandlung Taussig & Taussig", in der Verbindungsstraße zwischen Ständetheater und Altstädter Ring gelegen (Eisengasse 8). Führend in Prag.

Kafkas Wunsch wird verständlicher, wenn man weiß, dass er "sehr gern in Verlagskatalogen und Almanachen (Insel, S. Fischer, Georg Müller, A. Langen) las und die bloßen Büchertitel zum Ausgangspunkt von Phantasien machte." (Max Brod, Br 519, vgl. 479) Es handelte sich um einen bebilderten, 248 Seiten starken Weihnachts-Katalog (Tempel-Verlag), den Kafka schon im Vorjahr studiert hatte. vgl. F 156.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at