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An Grete Bloch

[18. November 1913]
 


Liebes Fräulein, nute raube ich Ihnen Ihre Nächte, sehe Ihr alle meine Vorstellungen und Fähigkeiten übersteigendes Mitgefühl, wärme mich daran ganze Tage und antworte nicht. Ich konnte es nicht. Verstehen Sie mich recht, es ist keine Entschuldigung. Vielleicht haben Sie keinen Brief von mir erwartet, aber ich habe ihn erwartet, ich hatte Ihnen unmittelbar auf Ihren Brief viel zu antworten oder irgendetwas zu tun, was dem Küssen Ihrer Hand gleichkäme, aber ich konnte es nicht und kann es auch heute nicht; wenn es nicht zur rechten Zeit geschieht, schlage ich kein wahres Wort aus mir heraus. Im übrigen habe ich F. seit meinem Besuch überhaupt nicht geschrieben und auch nichts von ihr gehört. Ist das Letztere nicht merkwürdig?

Aber ich höre auf. Ich benehme mich. im Brief so schändlich, wie ich es in Wirklichkeit niemals tun könnte. Ich ermatte nämlich geradezu und kann nicht weiterschreiben und das bei klarem Verstand und körperlicher Ruhe. Es entschwindet mir aber die Vorstellung, an wen ich schreibe, und ich bin wie im Nebel.

Ich werde morgen weiter schreiben und nicht von neuem anfangen, denn zwei ähnlich selbstsichere Briefanfänge habe ich schon vor paar Tagen weggeworfen. Sie müssen mir aber ausdrücklich sagen, dass Sie nicht böse sind, wenn ich nicht gleich antworte, und dass Sie sogar nicht böse sind, wenn die Antwort in nichts anderem besteht als in der Mitteilung eitles wenig mitteilungswürdigen Zustandes.

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Aber nun schreibe ich noch, ehe ich schlafen gehe, einen Traum auf, den ich gestern hatte, damit Sie sehen, dass ich bei Nacht wenigstens etwas tätiger bin als im Wachseins. Hören Sie: Auf einem ansteigenden Weg lag etwa in der Mitte der Steigung, und zwar hauptsächlich in der Fahrbahn, von unten gesehen links beginnend, festgewordener Unrat oder Lehm, der gegen rechtshin durch Abbrökkelung immer niedriger geworden war, während er links hoch wie Palisaden eines Zaunes stand. Ich ging rechts am Rande, wo der Weg fast frei war und sah auf einem Dreirad einen Mann von unten mir entgegenkommen und scheinbar geradewegs gegen das Hindernis fahren. Es war ein Mann wie ohne Augen, zumindest sahen seine Augen wie verwischte Löcher aus. Das Dreirad war wackelig, fuhr zwar entsprechend unsicher und gelockert, aber doch geräuschlos, fast übertrieben still und leicht. Ich faßte den Mann im letzten Augenblick, hielt ihn als wäre er die Handhabe seines Fahrzeugs und lenkte dieses in die Bresche, durch die ich gekommen war. Da fiel der Mann gegen mich hin, ich war riesengroß und mußte mich unbequem stellen, um ihn zu halten, zudem begann das Fahrzeug, als sei es nun herrenlos, zurückzufahren, wenn auch langsam, und zog mich mit. Wir kamen an einem Leiterwagen vorüber, auf dem einige Leute gedrängt standen, alle dunkel gekleidet, unter ihnen war ein Pfadfinderjunge mit dem hellgrauen aufgekrempelten Hut. Von diesem Jungen, den ich schon aus einiger Entfernung erkannt hatte, erwartete ich Hilfe, aber er wendete sich ab und drückte sich zwischen die Leute. Dami kam hinter diesem Leiterwagen - das Dreirad rollte immer weiter und ich mußte tief hinuntergebückt mit gespreizten Beinen nach -jemand mir entgegen, der mir Hilfe brachte, an den ich mich aber nicht mehr erinnern kann. So helfe ich Männern auf Dreirädern in der Nacht.

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Zwei Irrtümer, liebes Fräulein, sind vor allem in Ihrem Brief. Ich habe nicht Interesse geheuchelt, als sie von F.'s Zahnschmerzen und von des Bruders Entlobung erzählten. Das hat mich ja außerordentlich interessiert, ich hätte gar nichts anderes hören wollen, Sie haben für meinen Geschmack viel zu wenig davon erzählt, so bitt ich und darin bin ich doch nicht besonders merkwürdig, die Eiterung unter der Brücke, das stückweise Abbrechen der Brücke, das alles hätte ich mit jeder Einzelheit erfahren wollen und habe auch noch in Berlin F. gefragt. Die Lust, Schmerzliches möglichst zu verstärken, haben Sie nicht? Es scheint mir für instinktschwache Menschen oft die einzige Möglichkeit, Schmerz auszutreiben; man brennt eben die wunde Stelle aus, so wie es die von allen guten Instinkten verlassene Medicin tut. Natürlich ist damit nichts Endgültiges getan, aber der Augenblick - und für mehr zu sorgen haben schlechte, schwache Instinkte keine Zeit - ist fast lustvoll verbracht. Im übrigen mag noch anderes mitgewirkt haben, jedenfalls habe ich dabei nicht geheuchelt, im Gegenteil, ich war hiebei ganz besonders wahrhaftig.

Der zweite Irrtum betrifft F.'s Briefe, darin sind Sie nicht etwa schlecht unterrichtet worden. Das letzte ½ Jahr verging tatsächlich zwischen uns darin, dass ich über unpünktliche und unvollständige Briefe jammerte und keine genügende Erklärung bekam, keine genügende Erklärung vor allem für den Unterschied gegenüber den Briefen aus den ersten Monaten. In dem Nichtertragenkönnen eines solchen Zustandes fühle ich mich Ihnen so nahe, es gibt sicher von mir einen Haufen Briefe darüber, die an Tollheit grenzen. Und das Schlimmste daran ist, dass dann wieder von beiden Seiten Briefe kommen, die von nichts anderem handeln als vom Schreiben, leere, zeitverschwenderische Briefe, im Geheimen nichts anderes als Darstellungen der Plage, die ein Briefwechsel bedeutet, vielmehr bedeuten kann. Aber im Grunde will man doch gar keine Briefe sondern nur zwei Worte, nicht viel mehr. Das Verlangen nach solchen Briefen ist ja nichts anderes als Angst und Sorge. - Darin hatten Sie also recht, aber es gab eben neue Angst und Sorge, und die sind bei mir immer so ausschließlich, dass ich die alten nicht nur vergesse, sondern, selbst wenn ich an sie erinnert werde, sie mir im Augenblick nicht vorstellen kann.

So, jetzt grüße ich Sie noch herzlichst und schicke den Brief weg, so unsicher und verwirrt er ist. Diese Unsicherheit kommt übrigens, wie Sie erkennen werden, aus einem einzigen Kern, fast jedes Wort, das ich aufschreibe - nicht etwa nur für Sie - möchte ich wieder zurücknehmen oder noch besser, auslöschen.

Ihr F. Kafka


Ihre Tätigkeit In Wien ist erfolgreich, schreiben Sie. Worin bestehen diese Erfolge? Heißt es, dass Sie sich schon an Wien gewöhnt haben? Wohnen Sie gut? Ich frage, weil ich selbst jetzt übersiedelt bin [2] und wieder merke, wie ich mich an neue Zimmer sofort gewöhne, was schließlich nur beweist, dass ich mit dem alten keinen Zusammenhang hatte, so sehr ich es immer wieder glaube. Ich habe übrigens eine schöne Aussicht, die Sie sich, wenn Ihrem guten topographischen Gefühl auch ein solches Gedächtnis entspricht, vielleicht beiläufig vorstellen können. Geradeaus vor meinem Fenster im 4ten oder 5ten Stock habe ich die große Kuppel der russischen Kirche mit zwei Türmen und zwischen der Kuppel und dem nächsten Zinshaus den Ausblick auf einen kleinen dreieckigen Ausschnitt des Laurenziberges in der Ferne mit einer ganz kleinen Kirche. Links sehe ich das Rathaus mit dem Turm in seiner ganzen Masse scharf ansteigen und sich zurücklegen in, einer Perspektive, die vielleicht noch kein Mensch richtig gesehen hat.

Jetzt darf ich aber nicht noch vergessen, der Schwester in Ihnen zu sagen, dass Max Brod jetzt in Berlin war und Ihres Bruders Tüchtigkeit sehr gelobt hat.Wie arbeitet er denn? Um 7 Uhr früh geht er von zuhause fort und kommt erst abend zurück? Und woher hat er die Narben?




einen Traum: Vgl. Tagebücher (17. November 1913), S. 328f.


neue Zimmer: Kaf kas Zimmer im Oppeltschen Haus, Niklasstraße - Ecke Altstädter Ring. Vgl. Abbildung des Hauses und der gegenüberliegenden Niklaskirche in Franz Kafka a Praha, hrsg. von Peter Demetz, Prag 1947, Abb. 13. (Im weiteren zitiert als >Kafka a Praha<.)


Ihres Bruders: Dr. Hans Bloch (1891-1943) war Arzt in Berlin. Bereits als Gymnasiast stand er der zionistischen Bewegung nahe, in welcher er später eine bedeutende Rolle spielte.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at