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[Briefkopf des Hotel Sandwirth, Venedig]


An Felice Bauer

[Stempel: 16. IX. 1913]
 


Felice, Dein Brief ist weder eine Antwort auf die letzten Briefe, noch unserer Verabredung entsprechend. Ich mache Dir keinen Vorwurf deshalb, von meinen Briefen gilt ja dasselbe. Wir wollten bis ich zurückkomme, irgendwo uns treffen, um elend, wie wir beide sind, vielleicht einer aus dem andern sich Kräfte zu holen. Ist Dir denn noch nicht klar, wie es um mich steht, Felice? Wie kann ich dein in meinem unglückseligen Zustand Deinem Vater schreiben?

Eingesperrt von den Hemmungen, die Du kennst, kann ich mich nicht rühren, ich bin gänzlich, gänzlich außerstande, die innern Hindernisse niederzudrücken, das einzige was ich gerade noch imstande bin, ist grenzenlos unglücklich darüber zu sein. Ich könnte Deinem Vater schreiben, gänzlich einverständlich mit Dir und ganz aus meinem Herzen, aber bei der geringsten Annäherung der geringsten Realität wäre ich unbedingt wieder außer Rand und Band und würde ohne Rücksicht, unter dem unwiderstehlichsten Zwang das Alleinsein zu erreichen suchen. Das könnte nur in ein noch tieferes Unglück führen als zu dem, bei dem wir heute halten, Felice. Ich bin hier allein, rede fast mit keinem Menschen außer den Angestellten in den Hotels, bin traurig, dass es fast überläuft, und bin doch, das glaube ich zu fühlen, in dem mir entsprechenden, von einer überirdischen Gerechtigkeit mir zugemessenen, von mir nicht zu überschreitenden und bis zu meinem Ende weiter zu tragenden Zustand. Nicht dass ich *zuviel von mir aufgeben müßte", hindert mich, wenn dies auch in einem gewissen eingeschränkten Sinn richtig ist, vielmehr liege ich ganz und gar auf dem Boden, wie ein Tier, dem man (auch ich nicht) weder durch Zureden noch durch Überzeugen beikommen kann, wenn ich mich auch beiden und besonders dem letzteren nicht ganz entziehen kann. Ich kann mich aber nicht vorwärtsbringen, ich bin wie verstrickt, reiße ich mich vorwärts, reißt es mich stärker wieder zurück. Das ist die einzige Klarheit und Offenheit, die man heute von mir bekommen kann. Als ich heute früh aus dem Bett in den klaren venezianischen Himmel sah und solche Gedanken mir durch den Kopf gingen, schämte ich mich genug und war unglücklich genug. Aber was soll ich tun, Felice? Wir müssen Abschied nehmen.

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at