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An Felice Bauer
Ich bin ruhiger geworden, Felice, Sonntag lag ich noch mit Kopfschmerzen
im Wald und drehte den Kopf vor Schmerzen im Gras, heute ist es schon besser,
aber mehr beherrsche ich mich nicht als früher, ich bin ohnmächtig
mir gegenüber. In Gedanken kann ich mich teilen, ich kann ruhig und
zufrieden an Deiner Seite stehn und dabei meinen in diesem Augenblick sinnlosen
Selbstquälereien zusehn, ich kann in Gedanken über uns beiden
stehn und im Anblick des Leides, das ich Dir, dem besten Mädchen zufüge,
um eine ausgesuchte Marter für mich beten, das kann ich. Letzthin
schrieb ich folgenden Wunsch für mich auf: "Im
Vorübergehn durch das Parterrefenster eines Hauses an einem um den
Hals gelegten Strick hineingezogen und ohne Rücksicht, wie von einem,
der nicht acht gibt, blutend und zerfetzt durch alle Zimmerdecken, Möbel,
Mauern und Dachböden hinaufgerissen werden, bis oben auf dem Dach
die leere Schlinge erscheint, die meine letzten Reste gerade erst beim
Durchbrechen der Dachziegel verloren hat."
Aber in Wirklichkeit kann ich nichts, bin ganz in mich eingesperrt und
höre Deine geliebte Stimme nur von der Ferne. Gott weiß, von
welchen Quellen sich diese ewigen, gleichförmig sich drehenden Sorgen
nähren. Ich kann ihnen nicht beikommen. Ich dachte (Du dachtest es
auch), ich würde ruhiger werden, wenn ich Deinem Vater schriebe. Es
geschieht das Gegenteil, verstärkter Angriff verstärkt die Kräfte
dieser Sorgen und Ängstigungen unmäßig. Es wirkt hier eben das
Diktat, das alle Schwächlinge beherrscht und das auf äußerste
Buße, auf äußersten Radikalismus drängt. Die Lust,
für das Schreiben auf das größte menschliche Glück
zu verzichten, durchschneidet mir unaufhaltsam alle Muskeln. Ich kann mich
nicht frei machen. Die Befürchtungen, die ich habe, für den Fall,
dass ich nicht verzichte, verdunkeln mir alles.
Liebste, was Du mir sagst, sage ich fast ununterbrochen, die geringste
Loslösung von Dir brennt mich, was zwischen uns zwei vorgeht, wiederholt
sich in mir viel ärger, vor Deinen Briefen, vor Deinen Bildern erliege
ich. Und doch - Sieh, von den vier Menschen, die ich (ohne an Kraft und
Umfassung mich ihnen nahe zu stellen) als meine eigentlichen Blutsverwandten
fühle, von Grillparzer, Dostojewski, Kleist und Flaubert, hat nur
Dostojewski geheiratet, und vielleicht nur Kleist, als er sich im Gedränge
äußerer und innerer Not am Wannsee erschoß,
den richtigen Ausweg gefunden. Das alles kann an und für sich für
uns ganz bedeutungslos sein, jeder lebt ein neues Leben und stünde
ich selbst im Kern ihres Schattens, der auf unserer Zeit liegt. Aber es
ist eine Grundfrage des Lebens und Glaubens überhaupt und von da aus
hat das Deuten des Verhaltens jener vier mehr Sinn.
Liebste, alles aber verliert den Sinn im Verhältnis zu der Qual, die
ich Dir antue und die sicher ist, während ich die Qual in der Zukunft
für Dich nur fürchte. Du bist so lieb, kniete ich einmal vor
Dir, ich könnte nicht mehr fort, glaube ich. Über das, was ich
über Deinen vorvorletzten Brief geschrieben habe, Deine Eltern betreffend,
gehst Du hinweg wie ein Engel. (Gerade kommt Dein Telegramm. Liebste, quäl'
Dich doch nicht! Ich bekam doch Deinen Brief erst heute mittag. In die
Wohnung werden die Briefe doch so schlecht zugestellt, das weißt
Du ja. Nun ist auch schon ½6, ich kann nicht mehr telegraphieren.)
Dass Du jenen Brief dem Vater gibst, verlange ich gar nicht. Ich schrieb
ihn nur in der Aufregung und für jeden Fall. Die endliche Entscheidung
ist weder bei Deinem Vater noch bei mir, sondern nur bei Dir. Deinem Vater
gebührt vielleicht die Entscheidung nicht, ich bin zwischen Widersprüchen
eingespannt und kann mich nicht rühren, in diesen Widersprüchen
war ich von allem Anfang an.
Den Brief gib also dem Vater nicht, wenn Du nicht willst, aber einen andern
Brief kann ich ihm jetzt auch nicht schreiben, ich habe förmlich die
Hände nicht frei. Sag ihm, dass Dich etwas, vielleicht etwas
Aufzuklärendes, an mir beirrt hat, dass Du nicht willst, dass
ich an ihn schreibe, beides ist wahr. Unbeirrt kannst Du nicht geblieben
sein, und so schreiben, wie ich jetzt müßte, läßt
Du mich nicht. Sag' ihm also dieses, willst Du?
Gewiß, zusammenzukommen, zu zweit in Dresden oder in Berlin, das
wäre das beste. In jedem Sinn. Selbst wenn ich nichts zu sagen und
nur mich hinzustellen wissen werde. Nicht dass es für mich gut
sein wird, im höhern Sinn, so wie ich jetzt bin, aber das ist gleichgültig.
Nun fahre ich aber Samstag weg. Habe ich Dir schon von dem Internat. Kongreß
für Rettungswesen und Hygiene erzählt? Es hat sich gestern doch
im letzten Augenblick entschieden, dass ich hinfahre.
Ich verliere dadurch einige Tage der Ferien, habe aber einige Vorteile.
Ich fahre also Samstag nach Wien, bleibe dort wahrscheinlich bis nächsten
Samstag, fahre dann nach Riva ins Sanatorium, bleibe dort und werde dann
in den letzten Tagen vielleicht eine kleine Reise durch Oberitalien machen.
Ist es in Riva zu kühl, fahre ich überhaupt südlicher.
Verwende, Felice, die Zeit dazu, ruhig zu werden; wenn Du ruhig wirst,
wirst Du über mich klar werden. Ich bin vor Deinen ruhigen Augen wie
ein Irrlicht herumgefahren, denk' darüber nach, ob das, was Du nur
in der Eile im Durchein[an]der gesehen hast, auf die Dauer etwas Entscheidendes
bedeuten kann. Für den Preis Deiner Ruhe will ich auf Briefe überhaupt
verzichten, schreib mir während dieser Zeit nur in einem äußersten
Fall. Auch ich werde Dir nicht eigentlich schreiben. Aber ich notiere mir
immer auf einem Notizblock während der Reise Beobachtungen und Bemerkungen
und die werde ich Dir immer gesammelt zwei-, dreimal in der Woche schicken.
Wir werden dadurch ohne persönliche, durch meine Schuld Dich aufreibende
Verbindung und doch nicht ohne Verbindung sein.
Und bis ich zurückkomme, treffen wir uns, wo Du willst, sehn uns nach
der ganzen Zeit wieder ruhig ins Gesicht. Wenn Du das billigen wolltest!
Dein Franz
Im Vorübergehn ...verloren hat: Mit geringen
Abweichungen in den Tagebüchern (21. oder 22. Juli 1913), S. 310.
Wannsee: Felicens Schwester Erna berichtet den
Herausgebern [Erich Heller und Jürgen Born], Kafka habe mit ihr das Kleist-Grab am Wannsee besucht. Lange
habe er, so erinnert sie sich, "tief in Gedanken versunken"
an dieser Stätte verweilt.
dass ich hinfahre: Zur selben Zeit wie der
2. Internationale Kongreß für Rettungswesen und Unfallverhütung
fand in Wien der XI. Zionisten-Kongreß (2.-9. September 1913) statt,
den Kafka besuchte. Vgl. S. 462, S.465 und Briefe, S. 120.
Die erste Ausgabe der "Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der
Verlobungszeit" erschien 1967. Im Vorwort hieß es unter anderem:
"Felicens Sohn [Heinz, 1920-2012] und ihrer Schwester Erna [1885-1978]
verdanken wir manchen wichtigen Hinweis, den uns niemand außer ihnen
hätte geben können." [Die Lebensdaten von Heinz Marasse und Erna Bauer aus Karin Feuerstein Praßer:
Die Frauen der Dichter. München, Berlin, Zürich, 2015.]
bis: Im Prager Sprachgebrauch für "Wenn" verwendet - "Und wenn ich zurückkomme, ... "
Letzte Änderung: 26.1.2016 werner.haas@univie.ac.at