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An Felice Bauer

2. IX. 13
 


Ich bin ruhiger geworden, Felice, Sonntag lag ich noch mit Kopfschmerzen im Wald und drehte den Kopf vor Schmerzen im Gras, heute ist es schon besser, aber mehr beherrsche ich mich nicht als früher, ich bin ohnmächtig mir gegenüber. In Gedanken kann ich mich teilen, ich kann ruhig und zufrieden an Deiner Seite stehn und dabei meinen in diesem Augenblick sinnlosen Selbstquälereien zusehn, ich kann in Gedanken über uns beiden stehn und im Anblick des Leides, das ich Dir, dem besten Mädchen zufüge, um eine ausgesuchte Marter für mich beten, das kann ich. Letzthin schrieb ich folgenden Wunsch für mich auf: "Im Vorübergehn durch das Parterrefenster eines Hauses an einem um den Hals gelegten Strick hineingezogen und ohne Rücksicht, wie von einem, der nicht acht gibt, blutend und zerfetzt durch alle Zimmerdecken, Möbel, Mauern und Dachböden hinaufgerissen werden, bis oben auf dem Dach die leere Schlinge erscheint, die meine letzten Reste gerade erst beim Durchbrechen der Dachziegel verloren hat."

Aber in Wirklichkeit kann ich nichts, bin ganz in mich eingesperrt und höre Deine geliebte Stimme nur von der Ferne. Gott weiß, von welchen Quellen sich diese ewigen, gleichförmig sich drehenden Sorgen nähren. Ich kann ihnen nicht beikommen. Ich dachte (Du dachtest es auch), ich würde ruhiger werden, wenn ich Deinem Vater schriebe. Es geschieht das Gegenteil, verstärkter Angriff verstärkt die Kräfte dieser Sorgen und Ängstigungen unmäßig. Es wirkt hier eben das Diktat, das alle Schwächlinge beherrscht und das auf äußerste Buße, auf äußersten Radikalismus drängt. Die Lust, für das Schreiben auf das größte menschliche Glück zu verzichten, durchschneidet mir unaufhaltsam alle Muskeln. Ich kann mich nicht frei machen. Die Befürchtungen, die ich habe, für den Fall, dass ich nicht verzichte, verdunkeln mir alles.

Liebste, was Du mir sagst, sage ich fast ununterbrochen, die geringste Loslösung von Dir brennt mich, was zwischen uns zwei vorgeht, wiederholt sich in mir viel ärger, vor Deinen Briefen, vor Deinen Bildern erliege ich. Und doch - Sieh, von den vier Menschen, die ich (ohne an Kraft und Umfassung mich ihnen nahe zu stellen) als meine eigentlichen Blutsverwandten fühle, von Grillparzer, Dostojewski, Kleist und Flaubert, hat nur Dostojewski geheiratet, und vielleicht nur Kleist, als er sich im Gedränge äußerer und innerer Not am Wannsee erschoß, den richtigen Ausweg gefunden. Das alles kann an und für sich für uns ganz bedeutungslos sein, jeder lebt ein neues Leben und stünde ich selbst im Kern ihres Schattens, der auf unserer Zeit liegt. Aber es ist eine Grundfrage des Lebens und Glaubens überhaupt und von da aus hat das Deuten des Verhaltens jener vier mehr Sinn.

Liebste, alles aber verliert den Sinn im Verhältnis zu der Qual, die ich Dir antue und die sicher ist, während ich die Qual in der Zukunft für Dich nur fürchte. Du bist so lieb, kniete ich einmal vor Dir, ich könnte nicht mehr fort, glaube ich. Über das, was ich über Deinen vorvorletzten Brief geschrieben habe, Deine Eltern betreffend, gehst Du hinweg wie ein Engel. (Gerade kommt Dein Telegramm. Liebste, quäl' Dich doch nicht! Ich bekam doch Deinen Brief erst heute mittag. In die Wohnung werden die Briefe doch so schlecht zugestellt, das weißt Du ja. Nun ist auch schon ½6, ich kann nicht mehr telegraphieren.)

Dass Du jenen Brief dem Vater gibst, verlange ich gar nicht. Ich schrieb ihn nur in der Aufregung und für jeden Fall. Die endliche Entscheidung ist weder bei Deinem Vater noch bei mir, sondern nur bei Dir. Deinem Vater gebührt vielleicht die Entscheidung nicht, ich bin zwischen Widersprüchen eingespannt und kann mich nicht rühren, in diesen Widersprüchen war ich von allem Anfang an.

Den Brief gib also dem Vater nicht, wenn Du nicht willst, aber einen andern Brief kann ich ihm jetzt auch nicht schreiben, ich habe förmlich die Hände nicht frei. Sag ihm, dass Dich etwas, vielleicht etwas Aufzuklärendes, an mir beirrt hat, dass Du nicht willst, dass ich an ihn schreibe, beides ist wahr. Unbeirrt kannst Du nicht geblieben sein, und so schreiben, wie ich jetzt müßte, läßt Du mich nicht. Sag' ihm also dieses, willst Du?

Gewiß, zusammenzukommen, zu zweit in Dresden oder in Berlin, das wäre das beste. In jedem Sinn. Selbst wenn ich nichts zu sagen und nur mich hinzustellen wissen werde. Nicht dass es für mich gut sein wird, im höhern Sinn, so wie ich jetzt bin, aber das ist gleichgültig. Nun fahre ich aber Samstag weg. Habe ich Dir schon von dem Internat. Kongreß für Rettungswesen und Hygiene erzählt? Es hat sich gestern doch im letzten Augenblick entschieden, dass ich hinfahre. Ich verliere dadurch einige Tage der Ferien, habe aber einige Vorteile. Ich fahre also Samstag nach Wien, bleibe dort wahrscheinlich bis nächsten Samstag, fahre dann nach Riva ins Sanatorium, bleibe dort und werde dann in den letzten Tagen vielleicht eine kleine Reise durch Oberitalien machen. Ist es in Riva zu kühl, fahre ich überhaupt südlicher.

Verwende, Felice, die Zeit dazu, ruhig zu werden; wenn Du ruhig wirst, wirst Du über mich klar werden. Ich bin vor Deinen ruhigen Augen wie ein Irrlicht herumgefahren, denk' darüber nach, ob das, was Du nur in der Eile im Durchein[an]der gesehen hast, auf die Dauer etwas Entscheidendes bedeuten kann. Für den Preis Deiner Ruhe will ich auf Briefe überhaupt verzichten, schreib mir während dieser Zeit nur in einem äußersten Fall. Auch ich werde Dir nicht eigentlich schreiben. Aber ich notiere mir immer auf einem Notizblock während der Reise Beobachtungen und Bemerkungen und die werde ich Dir immer gesammelt zwei-, dreimal in der Woche schicken. Wir werden dadurch ohne persönliche, durch meine Schuld Dich aufreibende Verbindung und doch nicht ohne Verbindung sein.

Und bis ich zurückkomme, treffen wir uns, wo Du willst, sehn uns nach der ganzen Zeit wieder ruhig ins Gesicht. Wenn Du das billigen wolltest!

Dein Franz




Im Vorübergehn ...verloren hat: Mit geringen Abweichungen in den Tagebüchern (21. oder 22. Juli 1913), S. 310.


Wannsee: Felicens Schwester Erna berichtet den Herausgebern [Erich Heller und Jürgen Born], Kafka habe mit ihr das Kleist-Grab am Wannsee besucht. Lange habe er, so erinnert sie sich, "tief in Gedanken versunken" an dieser Stätte verweilt.
Die erste Ausgabe der "Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit" erschien 1967. Im Vorwort hieß es unter anderem: "Felicens Sohn [Heinz, 1920-2012] und ihrer Schwester Erna [1885-1978] verdanken wir manchen wichtigen Hinweis, den uns niemand außer ihnen hätte geben können." [Die Lebensdaten von Heinz Marasse und Erna Bauer aus Karin Feuerstein Praßer: Die Frauen der Dichter. München, Berlin, Zürich, 2015.]


dass ich hinfahre: Zur selben Zeit wie der 2. Internationale Kongreß für Rettungswesen und Unfallverhütung fand in Wien der XI. Zionisten-Kongreß (2.-9. September 1913) statt, den Kafka besuchte. Vgl. S. 462, S.465 und Briefe, S. 120.


bis: Im Prager Sprachgebrauch für "Wenn" verwendet - "Und wenn ich zurückkomme, ... "

Letzte Änderung: 26.1.2016werner.haas@univie.ac.at