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Franz Kafka an den Vater Felicens, Herrn Carl Bauer

[28. August 1913]
 


Sehr geehrter Herr Bauer!

Ichweiß nicht, ob Sie die Geduld und den Willen haben, jetzt, nachdem ich Ihre zwei gütigen Briefe erbettelt habe, noch die folgenden Dinge anzuhören. Daß ich sie aber unbedingt aussprechen muß, das weiß ich. Ich müßte sie aussprechen, selbst wenn mir die Briefe nicht das Vertrauen eingeflößt hätten, das ich jetzt zu Ihnen habe.

Was ich Ihnen in meinem ersten Briefe über mein Verhältnis zu Ihrer Tochter geschrieben habe, ist wahr und wird es bleiben. Es fehlt aber bis auf eine Andeutung, die Ihnen vielleicht entgangen ist, etwas Entscheidendes darin. Vielleicht glaubten Sie darauf nicht eingehen zu müssen, da Sie glaubten, die Auseinandersetzung mit meinem Charakter sei gänzlich Sache Ihrer Tochter und sei auch vollkommen vollzogen. Sie ist es nicht, immer wieder glaubte ich es zu Zeiten, immer wieder aber zeigte es sich, dass es nicht geschehen war, nicht geschehen konnte. Ich habe mit meinem Schreiben Ihre Tochter verblendet, meistens nicht täuschen wollen (manchmal täuschen wollen, weil ich sie liebte und liebe und der Unvereinbarkeit schrecklich mir bewußt war) und vielleicht gerade damit ihr die Augen zugehalten. Ich weiß es nicht.

Sie kennen Ihre Tochter, sie ist ein lustiges, gesundes, selbstsicheres Mädchen, das lustige, gesunde, lebendige Menschen um sich haben muß, um leben zu können. Mich kennen Sie nur von meinem Besuch (fast möchte ich sagen, es sollte genügen), ich kann auch nicht wiederholen, was ich von mir in etwa 500 Briefen Ihrer Tochter geschrieben habe. Bedenken Sie also nur dieses eine Wichtigste: Mein ganzes Wesen ist auf Literatur gerichtet, die Richtung habe ich bis zu meinem 30[s]ten Jahr genau festgehalten; wenn ich sie einmal verlasse, lebe ich eben nicht mehr. Alles was ich bin und nicht bin, folgert daraus. Ich bin schweigsam, ungesellig, verdrossen, eigennützig, hypochondrisch und tatsächlich kränklich. Ich beklage im Grunde nichts von alledem, es ist der irdische Widerschein höherer Notwendigkeit. (Was ich wirklich kann, steht hier natürlich nicht in Frage, hat keinen Zusammenhang damit.) Ich lebe in meiner Familie, unter den besten, liebevollsten Menschen, fremder als ein Fremder. Mit meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durchschnittlich nicht zwanzig Worte täglich gesprochen, mit meinem Vater kaum jemals mehr als Grußworte gewechselt. Mit meinen verheirateten Schwestern und den Schwägern spreche ich gar nicht, ohne etwa mit ihnen böse zu sein. Für die Familie fehlt mir jeder mitlebende Sinn.

Neben einem solchen Menschen soll Ihre Tochter leben können, deren Natur, als die eines gesunden Mädchens, sie zu einem wirklichen Eheglück vorherbestimmt hat? Sie soll es ertragen, ein klösterliches Leben neben einem Mann zu führen, der sie zwar lieb hat, wie er niemals einen andern lieb haben kann, der aber kraft seiner unabänderlichen Bestimmung die meiste Zeit in seinem Zimmer steckt oder gar allein herumwandert? Sie soll es ertragen, gänzlich abgetrennt von ihren Eltern und Verwandten und fast von jedem andern Verkehr hinzuleben, denn anders könnte ich, der ich meine Wohnung selbst vor meinem besten Freunde am liebsten zusperren würde, ein eheliches Zusammenleben mir gar nicht denken. Und das würde sie ertragen? Und wofür? Etwa für meine in ihren und vielleicht selbst in meinen Augen höchst fragwürdige Literatur? Dafür sollte sie allein in einer fremden Stadt in einer Ehe leben, die vielleicht eher Liebe und Freundschaft als wirkliche Ehe wäre.

Ich habe das Wenigste von dem gesagt, was ich sagen wollte. Vor allem: entschuldigen wollte ich nichts. Zwischen Ihrer Tochter und mir allein war keine Lösung möglich, dazu liebe ich sie zu sehr und sie gibt sich zu wenig Rechenschaft und will vielleicht auch nur aus Mitleid das Unmögliche, so sehr sie es leugnet. Nun sind wir zu dritt, urteilen Sie!

Ihr herzlich ergebener Dr. F. Kafka


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at