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[Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt]
An Felice Bauer
Als ich heute früh Deine beiden Briefe vom Mittwoch bekam und hörte,
der eine wäre schon gestern abend angekommen, wollte ich Dich telegraphisch
wegen meines gestrigen Briefes um Verzeihung bitten. Als ich aber die beiden
Briefe gelesen hatte, konnte ich es nicht. Das sind wirklich der Zeit und
dem Herzen abgezwungene Briefe, die mich trostlos machen. Ich bin nicht
ganz so unglücklich, als wenn ich nichts bekommen hätte, das
gestehe ich, aber nach einer andern Seite hin ist das Unglück viel
größer. Schriebest Du mir doch in solcher Laune nur Karten,
damit man sich ...
So weit hatte ich im Bureau geschrieben, ich war todtraurig. Ich saß
erstarrt über diesen Briefen, aus denen ich auch beim 100[s]ten Lesen
und bei größter Selbsttäuschung nichts von dem herauslesen
konnte, was ich brauchte. Mit einigen äußerlichen Änderungen
konnten es Briefe an einen fremden Menschen sein oder vielmehr sie konnten
es nicht sein, denn dann - so schien es mir - wären sie weniger flüchtig
nicht etwa geschrieben, sondern gefühlt gewesen. Liebste Felice, sieh',
ich bin doch nicht irrsinnig, mag ich auch besonders jetzt und Dir gegenüber
überempfindlich sein, denn Du bist für mich von unersetzlichem
Wert, wie das aber auch sein mag, was ich aus Deinen Briefen nicht herauslesen
kann, das steht eben nicht drin. Es ist wieder jene Verwunderung, wie ich
sie manchmal hatte, wenn wir beisammen waren (Du warst dann mir gegenüber
wie ermattet und unzugänglich aus inneren Zwang) und wie ich sie merkwürdiger
Weise immer zu fühlen bekomme, wenn Du von Berlin verreist. So war
es, als Du in Frankfurt, so war es, als Du in Göttingen und Hamburg
warst. Zerstreut Dich die Reise oder läßt sie Dich aufwachen?
Das sind doch Tatsachen, die nicht geleugnet, aber doch erklärt werden
können. Wenn ich in meiner Erinnerung den allerersten Brief, den Du
mir schriebst, mit Deinem letzten vergleiche, Felice, so muß ich
fast sagen, so wahnsinnig das aussieht, der erste dürfte mich mehr
freuen als dieser. Natürlich ist das nur ein einzelner Brief und noch
in dem vorvorletzten hast Du mir unzählige Male mehr Liebes erwiesen,
als ich verdiene. Aber immerhin auch die letzten zwei Briefe sind da, und
um Verdienst handelt es sich hier nicht. Kannst Du es mir erklären
und im guten Siam und nicht nur durch den Hinweis auf meine Einbildungen,
dann bitte, bitte, Felice, tue es. Gib eine Erklärung für die
paar geschriebenen Briefe dieser Art und für die Reihe der nichtgeschriebenen.
Unter den geschriebenen stehn die aus Frankfurt obenauf, dann jener Brief
aus dem Zoologischen [Garten] (unter dem Tisch geschrieben) und dann dieser
letzte vom Mittwoch abend, in dem nichts steht, als dass "Erna
schilt den ganzen Tag mit mir, sie behauptet, ich verbringe den ganzen
Tag im Zimmer mit Schreiben, anstatt in die Luft zu gehn." Liebste
Felice, was bedeutet das, was soll damit gesagt sein?
Und doch muß ich im Anblick des Bildes, das ich jetzt zuhause vorgefunden
habe, eingestehn, dass ich mich Dir mit unendlicher Gewalt verbunden
fühle, und wenn nicht dieser durchlittene Vormittag mir in der Erinnerung
die Fähigkeit gegeben hätte, das Obige, das Unbedingt-Notwendige
niederzuschreiben, ich lieber nur gedankt hätte, wie ich es im Anblick
Deines Bildes ununterbrochen tue.
Dein Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at