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An Felice Bauer

7. VIII. 13
 


Meine liebste Felice! Wie? Kopfschmerzen, schlechter Schlaf, sonderbare Träume, und das zu einer Zeit, wo Du Dich von der vielen Plage erholen sollst? Es ist unsere noch immer uriklare Lage, sonst nichts. Morgen nach Deinem Brief schreibe ich an Deinen Vater und dann wollen wir beide ruhig und sicher werden. Wir müssen es doch, besonders Du, denn dann erwartet Dich doch erst die große Not, das Beisammensein mit mir unbeherrschtem Menschen, den Du Dir vielleicht doch noch anders vorstellst, als er ist. Arme, liebste Felice! Ein Jahr lang müßte ich zu Deinen Füßen liegen, um Dir für den Mut zu danken, dass Du nach allem was Du von mir weißt, doch mit mir leben willst. Gelegenheit zu solchem Dank werde ich ja haben, bis wir beisammen sein werden, möchtest Du nur, Felice, dann den Blick haben, in allem diesen Dank zu sehn, auch wenn es nicht geradewegs auf Dich gerichtet sein wird, wenn es sich auch vielleicht geradezu in mich verkriecht. Kurz, möchtest Du die Gabe haben, nicht enttäuscht zu sein.

Schreib mir, Felice, etwas Genaueres von Deinem Leben dort in Westerland. Das Allgemeine weiß ich doch, aber an Einzelheiten will ich mich sättigen. Von Deiner Cousine hast Du mir niemals etwas Einzelnes geschrieben. Allein bleibt Ihr doch wohl nur die ersten Tage, zumindest mit den Leuten in der Pension, da doch gemeinsam gegessen wird, müßt Ihr ja bekannt werden. Was sind das für Leute? Wie heißen sie? Wer gefällt, wer mißfällt Dir? Und hat sich auf der Schiffsreise nichts Erzählenswertes ereignet (Ich lese jetzt eine alte Ausgabe von Robinson Crusoe, dort ereignet sich, wie es natürlich ist, auf den Schiffsreisen immerfort etwas. "Mittlerweile war der Sturm so heftig, dass ich sah, was man selten siehet: nämlich den Schiffer, den Hochbootsmann und etliche andere, denen es mehr als den übrigen zu Herzen ging, in vollem Gebete auf den Augenblick warten, da das Schiff untersinken würde.")? Und wie verbringst Du den Tag im einzelnen? Liest Du auch? Und was? Und ist es gar nicht gefährlich zu baden, wenn man nicht schwimmen kann?

Das Versprechen, das ich Dir in bianco abgenommen habe und für das ich Dir vielmals danke, betrifft das "Müllern". Ich werde Dir nächstens das "System für Frauen" schicken, und Du wirst (denn Du hast es doch versprochen, nicht?) langsam, systematisch, vorsichtig, gründlich, täglich zu "müllern" anfangen, mir darüber immer berichten und mir damit eine große Freude machen.

Franz


[am Rande] Deine beiden Briefe kamen gleichzeitig. Nur weiter so regelmäßig, und mein Herz wird auch regelmäßiger werden. Möchtest Du mir nicht einmal einen Brief Deiner Eltern schicken, damit ich sehe; wie sie Dir schreiben. Über den künftigen vegetarischen Haushalt schweigst Du? Und ich habe Jubel erwartet.




Müllern: Seit etwa Herbst 1909 turnte Kafka regelmäßig nach dem System des dänischen Gymnastik-Lehrers J.P. Müller. Vgl. Karten an Max Brod vom 10. und 18. März 1910 und den Brief [Frühjahr 1919?], Briefe, S. 79f. und S. 254. (Zur überzeugenden Umdatierung des letztgenannten Briefes auf >Frühjahr 1910< vgl. Kurt Krolop "Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des >expressionistischen Jahrzehnts <." in Weltfreunde, Prag 1967, S. 83, Anm, 106.) 1913 erschien die Version des Müllersehen Systems für Frauen.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at