Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
An Felice Bauer
Meine Felice, meine Liebste, nun habe ich Dir auf einen Brief nicht gleich
geantwortet. Hast Du das wirklich geglaubt? Ist das überhaupt möglich?
Nein, es ist nicht möglich, denn die Freude über einen Brief
von Dir ist so groß, dass ich mich nicht zurückhalten kann,
sofort zu antworten und wenn es mit mir noch so schlimm steht und es aus
Vernunftgründen vielleicht besser wäre nicht zu schreiben. Aber
denke nur, dieser Brief, den Du am Sonntag abend eingeworfen hast, kam
erst heute Freitag in meine Hände. Ein Poststempel zeigt, dass
er in Wien war. Während ich hier mich abquälte, wanderte dieser
Brief durch die Ungeschicklichkeit eines Beamten nach Wien und langsam
wieder zurück. Und ich rechnete in diesen langen Tagen: Felice antwortet
mir auf meinen principiellen Brief nicht, antwortet mir nicht auf die Frage
wegen des Briefes an den Vater, schreibt mir Sonntag, Montag, Dienstag
nicht, fährt nach Hannover, ohne dass ich nur im geringsten den
Zweck dieser Reise erfahre, gibt mir nicht die Adresse in Hannover an,
will also während der Reise nichts von mir hören, schreibt mir
schließlich von dieser Reise kein Wort - nun und so konnte ich doch
auch nicht schreiben, zumal ich eben jenen Brief erst heute bekam, der
die schlimmsten Voraussetzungen glücklicher Weise änderte. Es
war keine schöne Zeit, immer wieder mußte ich mir sagen, dass
Du gegen mich grausam ohne Absicht bist, und Grausamkeit ohne Absicht ist
in solcher Ausdehnung doch das Hoffnungsloseste.
Aber so ist es jetzt nicht, Felice, alles muß gut werden, es muß
gut werden. Der Brief an Deinen Vater ist noch nicht fertig, d. h. er war
schon öfters fertig, aber immer unbrauchbar. Er muß ganz kurz
und ganz deutlich sein, das ist nicht leicht. Ich will mich nicht hinter
Deinen Vater stecken, Du sollst ja den Brief vorher lesen. Aber geschrieben
muß er werden aus folgendem Grunde: Es gibt Hindernisse für
mich, die Du beiläufig kennst, die Du aber nicht ernst genug nimmst
und die Du selbst dann nicht ernst genug nehmen würdest, wenn Du sie
vollständig kennen würdest. Niemand um mich nimmt sie genug ernst
oder er tut es mir zuliebe, sie nicht ernst zu nehmen. Es ist das schon
so oft Wiederholte: Seit 10 Jahren etwa fühle ich mich in immer zunehmender
Weise nicht ganz gesund, das Wohlgefühl des Gesundseins, das Wohlgefühl
eines in jeder Hinsicht gehorchenden Körpers, auch ohne ständige
Aufmerksamkeit und Sorge arbeitenden Körpers, dieses Wohlgefühl,
aus dem die ständige Lustigkeit und vor allem Unbefangenheit der meisten
Menschen hervorgeht - dieses Wohlgefühl fehlt mir. Und es fehlt mir
in jeder, aber in jeder Lebensäußerung. Und es sitzt der Fehler
nicht etwa in irgendeiner besonderen Krankheit, die ich einmal gehabt hätte,
im Gegenteil, seit den Kinderkrankheiten war ich derartig ausdrücklich,
dass ich deshalb zu Bett gelegen wäre, vielleicht überhaupt
nicht krank, ich kann mich wenigstens an eine solche Krankheit gar nicht
erinnern. Dieser traurige Zustand ist nun aber da, äußert sich
jeden Augenblick fast, in der Ferne scheint er erträglich, bei zeitweiligen
Zusammenkünften mit Freunden sieht man über ihn hinweg, in der
Familie kommt er durch Todesschweigen nicht zur eigentlichen Geltung, dagegen
in der unmittelbarsten Gemeinschaft? So wie mich dieser Zustand hindert,
unbefangen zu reden, unbefangen zu essen, unbefangen zu schlafen, hindert
er mich an jeder Unbefangenheit. Ich wüßte nichts, wovor ich
mich nicht in dieser Weise fürchtete, und das mit erfahrungsmäßiger
Begründung. Sag, kann ich im übervollen Bewußtsein dessen,
ohne weiters, dein liebsten Menschen, den ich habe, etwas aufbürden
wollen, wovor ich selbst gleichgültige Menschen zu verschonen suche,
selbst wenn es sich um zeitlich und innerlich beschränktes Zusammensein
handelt, hier aber wäre alles schrankenlos. Kann ich Dich geradewegs
um die Bewilligung einer Aussprache bitten, die mich schon brennt weil
ich sie allzulange verschweige? Kann ich es? Und darf ich mich damit begnügen,
nur Dich zu bitten wenn ich sehe, wie Du verwandelt bist, wenn Du mit mir
bist (ohne dass diese Verwandlung zu meinen Gunsten zu deuten wäre,
eher zu meiner Schande), wie Dich, dieses sonst selbstsichere, raschdenkende,
stolze Mädchen eine matte Gleichgültigkeit ergreift und wie man
in dieser Verfassung, wenn man nur einen Hauch von Verantwortlichkeit in
sich fühlt, keinesfalls die Entscheidung über sein Schicksal,
wie erst die über Deines von Dir verlangen oder annehmen kann? Wie
hat mich dieser Zwiespalt niedergedrückt dort im Grunewald und Dich
übrigens auch: alles sagen zu dürfen und nicht sagen zu dürfen.
Aus dem allen folgt: Ich kann die Verantwortung nicht tragen, denn ich
sehe sie für zu groß an, Du aber kannst sie nicht tragen, denn
Du siehst sie kaum. Natürlich gibt es Wunder, dass Du mir gut
bist, ist z. B. eines, und warum sollte in der Reihenfolge der Wunder,
die eine Gemeinschaft mit Dir zur Folge hätte, nicht auch meine Heilung
sein. Diese Hoffnung ist nicht so klein, als dass sie die Verantwortung
nicht verkleinern würde, aber die Verantwortung ist in ihrer Gänze
zu groß und bleibt es.
Darum will ich Deinem Vater jetzt schreiben. Von meinen Eltern oder meinen
Freunden bekäme ich keinen genügenden Rat. Sie denken zu wenig
an Dich und würden mir nur das raten was ich ja offen genug will,
alle Verantwortung zu tragen, vielmehr sie würden es mir nicht raten,
sie raten es mir (wenn ich es auch nicht sage, in meinen Augen steht es,
was ich hören will), und allen voran in ihrer nur auf mich und den
Augenblick eingeschränkten Kurzsichtigkeit meine Mutter. Sie weiß
nichts, und wenn sie es weiß, begreift sie es aus Mutterstolz und
Mutterliebe nicht, da ist kein Rat zu holen. Den gibt es nur bei Deinem
Vater, in dieser Hinsicht war mein Besuch sehr nützlich, denn seinen
Rat wird nicht das geringste gute Vorurteil zu meinen Gunsten beirren.
Ich werde ihm das sagen, was ich Dir jetzt sage, nur deutlicher und werde
ihn - was sich ein wenig komisch anhört und auch ein klägliches
Aushilfsmittel in der großen Not ist - im Falle er mich nicht ganz
verwirft, um Nennung eines Arztes bitten, dem er vertraut und von dem ich
mich untersuchen lassen würde.
Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at