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An Felice Bauer

11. IV. 13
 


So weit sind wir jetzt von einander, Felice, die Ansichtskarte, die Du noch Mittwoch abends eingeworfen zu haben scheinst, habe ich erst heute Freitag bekommen. Solche Entfernungen fühle ich (nicht jetzt, denn ich bin ganz stumpf von einer schlechten Geschichte von Friedrich Huch, die ich in der Neuen Rundschau gelesen habe, aber sonst, z.B. als ich Deine Karte auf dem Tisch liegen sah) - nein, ich fahre nicht fort, siehst Du, so bricht manchmal alles über mir zusammen. Eigentlich wollte ich nur erzählen, wie ich letzthin durch Zufall auf den Gedanken kam, es wäre möglich, dass ich in Wien lebte, was für eine schreckliche Entfernung mich dann von Dir trennen würde, wie gerade noch die Entfernung in Prag noch ganz knapp zu ertragen ist rund was für ein verlorener Ort dieses Wien dort unten ist, trotzdem es vor einem ½. Jahr Prag sogar näher war als Berlin.

Die Karte war wohl um 4 Uhr geschrieben, Du bist im Speisewagen gesessen, wie genau ich Dich sehe, ich kann Dir beschreiben, wo Du gesessen bist: wenn die Fahrtrichtung diese ← war, so bist Du meiner Vorstellung nach von dieser Fahrtrichtung aus gesehen am letzten oder vorletzten Tisch rechts gesessen, und zwar am Fenster, den Blick gegen die Fahrtrichtung. Ich hätte es aufzeichnen können, aber dann hätte ich Deinen Sessel leer lassen müssen und das wollte ich nicht. Solltest Du behaupten, anderswo gesessen zu haben, werde ich es nicht glauben. Jetzt merke ich übrigens, dass ich mich gewiß geirrt haben muß, denn in meiner Vorstellung sehe ich den ganzen Speisewagen bis auf Dich vollständig leer, und den Kellner, der Dir die Ansichtskarte bringt, muß ich mir schon abzwingen.

Letzthin habe ich übrigens ganz wild durcheinander von Dir, von Max und seiner Frau geträumt. Wir waren in Berlin und fanden unter anderem alle Grunewaldseen, die Du mir in Wirklichkeit gar nicht zeigen konntest, mitten in der Stadt, einen hinter dem andern. Vielleicht war ich bei dieser Entdeckung allein, ich wollte wahrscheinlich zu Dir gehn, verirrte mich fast mutwillig, sah irgendwelche merkwürdige, grauschwarze, undeutbare Erscheinungen von einem Quai aus, fragte einen Vorübergehenden um Auskunft, erfuhr, dass es die Grunewaldseen waren und dass ich, zwar mitten in der Stadt, aber doch sehr weit von Dir entfernt war. Dann waren wir auch in Wannsee, wo es Dir nicht gefallen hat (diese wirkliche Bemerkung lag mir während dieses Träumens immerfort in den Ohren), man trat durch eine Gittertür wie in einen Park oder einen Friedhof und erlebte vieles, für dessen Erzählung schon zu spät ist. Ich müßte auch zu sehr in mir bohren, um mich daran noch zu erinnern. Gute Nacht und bessere Träume.

Franz




schlechten Geschichte von Friedrich Huch: Friedrich Huchs Novelle "Der Gast", Die Neue Rundschau 1913, 4 (April), S. 457ff


Letzte Änderung: 8.6.2016werner.haas@univie.ac.at