Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
An Felice Bauer
Meine eigentliche Furcht - es kann wohl nichts Schlimmeres gesagt und
angehört werden - ist die, daß ich Dich niemals werde besitzen
können. Daß ich im günstigsten Falle darauf beschränkt
bleiben werde, wie ein besinnungslos treuer Hund Deine zerstreut mir überlassene
Hand zu küssen, was kein Liebeszeichen sein wird, sondern nur ein
Zeichen der Verzweiflung des zur Stummheit und ewigen Entfernung verurteilten
Tieres. Daß ich neben Dir sitzen werde und, wie es schon geschehen
ist, das Ahnen und Leben Deines Leibes an meiner Seite fühlen werde
und im Grunde entfernter von Dir sein werde als jetzt in meinem Zimmer.
Daß ich nie imstande sein werde, Deinen Blick zu lenken, und daß
er für mich wirklich verloren sein wird, wenn Du aus dem Fenster schaust
oder das Gesicht in die Hände legst. Daß ich mit Dir Hand in
Hand scheinbar verbunden an der ganzen Welt vorüberfahre und daß
nichts davon wahr ist. Kurz, daß ich für immer
von Dir ausgeschlossen bleibe, ob Du Dich auch so tief zu mir herunterbeugst,
dass es Dich in Gefahr bringt.
Wenn das wahr ist, Felice, - und es scheint mir vollständig zweifellos
-dann hatte ich doch guten Grund, vor etwa schon einem halben Jahr mit
aller Gewalt Abschied von Dir nehmen zu wollen und hatte auch guten Grund,
jede äußerliche Verbindung mit Dir zu fürchten, da die
Folge einer solchen Verbindung nur die wäre, dass mein Verlangen
nach Dir von allen jenen schwachen Kräften losgekettet würde,
die mich, einen für diese Erde Unfähigen, heute noch auf dieser
Erde halten.
Ich höre auf, Felice, ich habe heute genug geschrieben.
Franz
Gerade wollte ich mich ausziehn, da kam die Mutter wegen einer Kleinigkeit
herein und bot mir dann beim Weggehn einen Gute-Nachtkuß an, was
schon viele Jahre nicht geschehen ist. "So ist es recht", sagte
ich. "Ich habe es niemals gewagt",sagte die Mutter, "ich dachte,
Du hast es nicht gern. Aber wenn Du es gern hast, habe ich es auch sehr
gern."
Kurz ... in Gefahr bringt. : Vgl. Brief an Max
Brod vom 3. April 1913: "Gestern habe ich nach Berlin das große
Geständnis geschrieben, sie ist eine wirkliche Märtyrerin und
ich untergrabe ganz deutlich den Boden, auf dem sie früher glücklich
und in Übereinstimmung mit der ganzen Welt gelebt hat." Briefe,
S. 115.
Letzte Änderung: 8.6.2016 werner.haas@univie.ac.at