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An Felice Bauer

28. III. 13
 


Ich will nicht mehr klagen, die 7 Wochen - oder sind es nur noch 6, ich habe keinen Kalender bei der Hand - sind zu kurz und zu lang, zu kurz, um alles zu sagen, zu kurz, um den Glauben daran, dass Du Dich gegen mich nicht veränderst (Du willst mir ja auf das, was ich zu gestehen habe, nicht geradezu antworten), völlig zu genießen, sie sind aber auch fast zu lang, als dass man sie durchleben könnte. Ich suche Dich überall, kleine Bewegungen der verschiedensten Menschen auf der Gasse erinnern mich an Dich durch ihre Ähnlichkeit ebenso wie durch ihre Gegensätzlichkeit, aber ich kann es nicht aussprechen, das mich so erfüllt; es erfüllt mich ganz und läßt keine Kraft übrig, es zu sagen.

Ich habe Dich zu lange in Wirklichkeit gesehn (dafür wenigstens habe ich die Zeit gut ausgenützt), als dass mir Deine Photographien jetzt etwas nützen könnten. Ich will sie nicht ansehn. Auf den Photographien bist Du glatt und ins Allgemeine gerückt, ich aber habe Dir in das wirkliche, menschliche, notwendig fehlerhafte Gesicht gesehn und mich darin verloren. Wie könnte ich wieder herauskommen und mich in bloßen Photographien zurechtfinden!

Nur für das Ausbleiben von Nachrichten habe ich' die alte Empfindlichkeit behalten. Mir fehlt jedes Vertrauen. Nur in glücklichen Zeiten des Schreibens habe ich es, sonst aber geht die Welt ihren ungeheueren Gang durchaus gegen mich. Ich überlege immer alle Möglichkeiten für das Ausbleiben Deines Briefes, denke sie hundertmal durch, so wie man in der Verzweiflung beim Suchen irgendeines Gegenstandes hundertmal den gleichen Ort absucht. Wäre es nicht möglich, dass Dir wirklich etwas Ernstliches geschehen ist und dass mich dadurch, während ich mich hier so beiläufig herumschleppe, in Wirklichkeit etwas Schreckliches getroffen hat? Diese Gedanken drehn sich den ganzen Tag langsam aber unaufhörlich in mir herum. Wenn ich, Liebste, von morgen ab Dir tagebuchartige Berichte schicke, so halte es nicht für Komödie. Es werden darin Dinge sein, die ich wirklich nicht anders aussprechen könnte, als wenn ich sie nur für mich sage, sei es auch in Deiner lieben, stillen Gegenwart. Ich kann natürlich nicht an Dich vergessen, wenn ich an Dich schreibe, da ich ja auch sonst an Dich nicht vergessen kann, aber ich will mich gewissermaßen aus dem Dusel, in dem allein ich es schreiben darf, durch Anrufung Deines Namens nicht wecken. Dulde nur, bitte Felice, alles, was Du hören wirst; ich kann jetzt nicht schreiben; ich werde alles grob heraussagen müssen; Du hast vor paar Tagen gesagt, dass Du die Verantwortung für alles auf Dich nimmst, das wäre ja noch viel mehr, als geduldig alles anhören. Ich werde versuchen, alles zu schreiben, bis au das, was ich vor mir selbst niederzuschreiben mich schämen würde. - Und nun leb wohl Liebste, Gott behüte Dich! Nun kenne ich Berlin beiläufig, schreib mir alle Gassen [*] und Orte mit Namen, wo Du warst.

Dein


* [Am unteren Rand nicht Gassen, sondern Straßen


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at