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An Felice Bauer
Ich will nicht mehr klagen, die 7 Wochen - oder sind es nur noch 6, ich
habe keinen Kalender bei der Hand - sind zu kurz und zu lang, zu kurz,
um alles zu sagen, zu kurz, um den Glauben daran, dass Du Dich gegen
mich nicht veränderst (Du willst mir ja auf das, was ich zu gestehen
habe, nicht geradezu antworten), völlig zu genießen, sie sind
aber auch fast zu lang, als dass man sie durchleben könnte. Ich
suche Dich überall, kleine Bewegungen der verschiedensten Menschen
auf der Gasse erinnern mich an Dich durch ihre Ähnlichkeit ebenso
wie durch ihre Gegensätzlichkeit, aber ich kann es nicht aussprechen,
das mich so erfüllt; es erfüllt mich ganz und läßt
keine Kraft übrig, es zu sagen.
Ich habe Dich zu lange in Wirklichkeit gesehn (dafür wenigstens habe
ich die Zeit gut ausgenützt), als dass mir Deine Photographien
jetzt etwas nützen könnten. Ich will sie nicht ansehn. Auf den
Photographien bist Du glatt und ins Allgemeine gerückt, ich aber habe
Dir in das wirkliche, menschliche, notwendig fehlerhafte Gesicht gesehn
und mich darin verloren. Wie könnte ich wieder herauskommen und mich
in bloßen Photographien zurechtfinden!
Nur für das Ausbleiben von Nachrichten habe ich' die alte Empfindlichkeit
behalten. Mir fehlt jedes Vertrauen. Nur in glücklichen Zeiten des
Schreibens habe ich es, sonst aber geht die Welt ihren ungeheueren Gang
durchaus gegen mich. Ich überlege immer alle Möglichkeiten für
das Ausbleiben Deines Briefes, denke sie hundertmal durch, so wie man in
der Verzweiflung beim Suchen irgendeines Gegenstandes hundertmal den gleichen
Ort absucht. Wäre es nicht möglich, dass Dir wirklich etwas
Ernstliches geschehen ist und dass mich dadurch, während ich
mich hier so beiläufig herumschleppe, in Wirklichkeit etwas Schreckliches
getroffen hat? Diese Gedanken drehn sich den ganzen Tag langsam aber unaufhörlich
in mir herum. Wenn ich, Liebste, von morgen ab Dir tagebuchartige Berichte
schicke, so halte es nicht für Komödie. Es werden darin Dinge
sein, die ich wirklich nicht anders aussprechen könnte, als wenn ich
sie nur für mich sage, sei es auch in Deiner lieben, stillen Gegenwart.
Ich kann natürlich nicht an Dich vergessen, wenn ich an Dich schreibe,
da ich ja auch sonst an Dich nicht vergessen kann, aber ich will mich gewissermaßen
aus dem Dusel, in dem allein ich es schreiben darf, durch Anrufung Deines
Namens nicht wecken. Dulde nur, bitte Felice, alles, was Du hören
wirst; ich kann jetzt nicht schreiben; ich werde alles grob heraussagen
müssen; Du hast vor paar Tagen gesagt, dass Du die Verantwortung
für alles auf Dich nimmst, das wäre ja noch viel mehr, als geduldig
alles anhören. Ich werde versuchen, alles zu schreiben, bis au das,
was ich vor mir selbst niederzuschreiben mich schämen würde.
- Und nun leb wohl Liebste, Gott behüte Dich! Nun kenne ich Berlin
beiläufig, schreib mir alle Gassen [*] und Orte mit Namen, wo Du warst.
Dein
* [Am unteren Rand nicht Gassen, sondern Straßen
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at