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[Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt]


An Felice Bauer

28. III. 13
 


Liebste Felice, sei mir nur nicht böse, dass ich so wenig schreibe, es bedeutet nicht, dass ich wenig Zeit für Dich habe, vielmehr gibt es, seitdem ich von Berlin fort bin, nicht viele Augenblicke, die nicht ganz und gar und bis auf den Grund und mit allem, was ich bin, Dir gehören. Aber ich war eben gestern in Aussig, kam spät nachhause und nun saß ich wirklich vor lauter Erschöpfung nur wie eine Puppe noch bei Tisch. Ich habe schreckliche Ermüdungszustände durchgemacht. Das war kein menschlicher Kopf mehr, den ich auf dem Leibe trug. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, also vor der Russiger Reise, kam ich, da ich die Akten studieren mußte, erst um 11½. Uhr ins Bett, aber trotz aller Müdigkeit konnte ich nicht einschlafen, noch 1 Uhr hörte ich schlagen und sollte doch um ½5 wieder aufstehn. Das Fenster war offen, ich sprang in meinen zerworfenen Gedanken viertelstundenlang torunterbrochen aus dem Fenster, dann kamen wieder Eisenbahnzüge und einer hinter dem andern fuhr über meinen auf den Schienen liegenden Körper und vertiefte und verbreiterte die zwei Schnitte im Hals und in den Beinen. Aber warum schreibe ich das? Nur um wieder durch Mitleid noch einmal Dich an mich zu ziehn und dieses Glück noch zu genießen, ehe die wirkliche Beichte alles zerstören wird.

Wie nah ich Dir von meiner Seite durch die Berliner Reise gekommen bin! Ich ahne nur in Dir. Du kennst mich aber nicht genug, Du Liebste und Beste, wenn es mir auch unbegreiflich ist, wie Du über Dinge hinwegsehn konntest, die neben Dir vorgingen. Nur aus Güte? Und wenn das möglich ist, sollte dann nicht alles möglich sein? Aber über das alles werde ich noch ausführlich schreiben.


Franz


Heute kam kein Brief, vielleicht ist er zuhause. Die Ungeduld, das zu erfahren, ist auch ein Grund dafür, dass ich aufhöre.

Könntest Du mir, Felice, etwas darüber schreiben, wie sich die Eindrücke, die zuerst meine Brief [el und dann meine Gegenwart auf Dich machten, zueinander verhalten?


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at