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An Felice Bauer

vom 13. zum 14. III.13
 


Ist man schon ruhiger? Zieht das Leid ab? Nach dem heutigen Brief könnte man es glauben und recht wäre es mir schon, aber mir fehlt das Zutrauen. Lesen kannst Du nicht? Das ist kein Wunder. Wann hättest Du denn Zeit dazu? Aber wie kommst Du, Felice, Liebste, wie kommst Du zu Uriel Acosta? Ich kenne das Stück auch nicht und ich dächte, ich könnte es auch nicht lesen, trotzdem bei mir wahr ist, was Du zum Spaß von Deinem Gehirn sagst. Aber vielleicht maß so ein Gehirn eintrocknen und hart werden, damit man einmal zu seiner Zeit einen Funken daraus schlagen kann. Das wollte ich schreiben, als meine Schwester, ich saß allein im Wohnzimmer, läutete, sie war aus dem Kinematographentheater nachhause gekommen und ich maßte ihr öffnen gehn. Nun war ich gestört und ließ den Brief. Die Schwester erzählte von der Vorstellung oder vielmehr ich fragte sie aus, denn, wenn ich auch selbst nur sehr selten ins Kinematographentheater gehe, so weiß ich doch meistens fast alle Wochenprogramme aller Kinematographen auswendig. Meine Zerstreutheit, mein Vergnügungsbedürfnis sättigt sich an den Plakaten von meinem gewöhnlichen innerlichsten Unbehagen, von diesem Gefühl des ewig Provisorischen ruhe ich mich vor den Plakaten aus, immer wenn ich von den Sommerfrischen, die ja schließlich doch unbefriedigend ausgegangen waren, in die Stadt zurückkam, hatte ich eine Gier nach den Plakaten und von der Elektrischen, mit der ich nachhause fuhr, las ich im Fluge, bruchstückweise, angestrengt die Plakate ab, an denen wir vorüberfuhren. - Manchmal, ich weiß nicht, welches der Grund ist, drängt sich mir besonders stark alles auf, was ich Dir zu sagen habe, wie eine Volksmenge, die gleichzeitig in eine enge Tür hineinkommen will. Und ich habe Dir gar nichts gesagt und weniger als nichts, denn, was ich in der letzten Zeit geschrieben habe, war falsch, nicht bis zum Grund natürlich, denn im Grunde ist alles richtig, aber wer kann durch diese Verwirrung und Falschheit an der Oberfläche hindurchsehn? Kannst Du es, Liebste? Nein, gewiß nicht. Aber lassen wir es jetzt, es ist schon spät. Die Schwester hat mich aufgehalten. "La broyeuse des Coeurs" wurde gespielt, die Herzensbrecherin. Und nun habe ich ein wissenschaftliches Buch allzulange gelesen. Wie wäre es, Liebste, wenn ich Dir statt Briefe - Tagebuchblätter schikken würde? Ich entbehre es, dass ich kein Tagebuch führe, so wenig und so nichtiges auch geschieht und so nichtig ich alles auch hinnehme. Aber ein Tagebuch, das Du nicht kennen würdest, wäre keines für mich. Und die Veränderungen und Auslassungen, die ein für Dich bestimmtes Tagebuch haben müßte, wären für mich gewiß nur heilsam und erzieherisch. Bist Du einverstanden? Der Unterschied gegenüber den Briefen wird der sein, dass die Tagebuchblätter vielleicht manchmal inhaltsreicher, gewiß aber immer noch langweiliger und noch roher sein werden, als es die Briefe sind. Aber fürchte Dich nicht allzusehr, die Liebe zu Dir wird ihnen nicht fehlen. Was Du lesen sollst? Ich weiß ja nicht, was Du kennst. Das oft erbetene Bücherverzeichnis habe ich auch noch nicht bekommen. Blindlings sage ich: Lies Werthers Leiden! An Deinen Vater habe ich sonderbarer Weise in der letzten Zeit wirklich oft gedacht und oft wollte ich auch schon fragen, ob er [Stoeßls] "Morgenrot" schon ausgelesen hat. Sieh Felice, Du denkst nicht genug an mich, gestern habe ich erfahren, dass letzthin im Berliner Tageblatt eine Besprechung der "Höhe d. Gefühls" von Stoessl stand. Und Du hast sie mir nicht geschickt. Ich lege zwei Zeitungsabschnitte bei, die gerade heute erschienen sind und die ich gerade zufällig bei der Hand habe. Die Novelle ist zwar für Oskar [Baum] ebensowenig charakteristisch wie der Aufsatz für Felix [Weltsch], sie können beide viel Besseres, über das Bessere Oskars wirst Du gewiß noch staunen, während das Bessere des Felix Dir unzugänglich ist. (Mir nicht weniger.).

Sonntag in Deiner Not hast Du auch noch gekocht und so Appetitliches. Ich bedauerte heute vormittag nach meinen Principien nichts essen zu dürfen, solche Lust hatte mir Deine Aufzählung gemacht. Es ist ja freilich nur theoretische Lust, wie ich überhaupt gerne Menschen essen sehe.

Adieu, Felice, und noch einen besondern Dank für den heutigen langen Brief.

Franz




Uriel Acosta: Tragödie von Karl Gutzkow.


kein Tagebuch: In Kafkas Tagebüchern finden sich zwischen dem 28. Februar und 2. Mai 1913 keine Eintragungen.


Die Novelle: Die Novelle "Die Fremde" von Oskar Baum erschien am 13. März 1913 in der Bohemia, ein Aufsatz von Felix Weltsch über Henri Bergson am selben Tage im Prager Tagblatt.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at