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An Felice Bauer

6. zum 7.III. 13
 


Nein, das genügt mir nicht. Ich fragte, ist es nicht Mitleid, was Du vor allem für mich fühlst. Und ich habe die Frage begründet. Du sagst bloß: nein. Aber ich war doch ein anderer damals, als ich Dir den ersten Brief schrieb, den ich vor paar Tagen beim oberflächlichen Ordnen meines Schreibtisches (anders als oberflächlich wird er nicht geordnet) in der Durchschlagkopie gefunden habe (es ist die einzige Kopie eines Briefes, die ich habe). Ich war anders, das wirst Du nicht leugnen können und wenn ich auch hie und da verfallen bin, so habe ich mich doch leicht zurückgefunden. Habe ich Dich also irregeführt bis in diese traurigen Zeiten hinein? Es gibt nur die zwei Möglichkeiten: entweder hast Du nur Mitleid mit mir, warum dränge ich mich dann in Deine Liebe, verlege Dir allewege, zwinge Dich, mir jeden Tag zu schreiben, an mich zu denken, tyrannisiere Dich mit der ohnmächtigen Liebe eines Ohnmächtigen und suche nicht lieber eine Möglichkeit, Dich schonend von mir zu befreien, das Bewußtsein von Dir bemitleidet zu werden in der Stille allein zu genießen und auf diese Weise wenigstens Deines Mitleides würdig zu sein. Oder aber, Du bemitleidest mich nicht ausschließlich, sondern bist irregeführt worden im Laufe des halben Jahres, hast nicht den richtigen Einblick in mein elendes Wesen, liest über meine Eingeständnisse hinweg und hinderst Dich unbewußt, ihnen zu glauben, so sehr es Dich wieder anderseits kraft Deiner Natur dazu drängen muß. Warum nehme ich dann nicht aber alles zusammen, was ich noch habe, um Dir die Lage der Dinge ganz klar zu machen, warum wähle ich nicht die eindeutigsten kürzesten Worte, die nicht übersehen, mißverstanden und vergessen werden können? Habe ich vielleicht noch irgendeine Hoffnung oder spiele ich mit einer solchen Hoffnung, Du könntest mir erhalten bleiben? Wenn dem so ist und es scheint manchmal so zu sein, dann wäre es meine Pflicht, aus mir herauszutreten und ohne Rücksicht Dich gegen mich zu verteidigen.

Es gibt aber doch noch eine dritte Möglichkeit: vielleicht bemitleidest Du mich nicht ausschließlich und verstehst auch meinen gegenwärtigen Zustand richtig, glaubst aber, dass ich einmal doch noch ein brauchbarer Mensch werden kann, mit dem ein gleichmäßiger, ruhiger, lebendiger Verkehr möglich ist. Wenn Du das glaubst, so täuschst Du Dich schrecklich, ich sagte Dir schon, mein gegenwärtiger Zustand (und heute ist er noch vergleichsweise paradiesisch) ist kein Ausnahmszustand. Ergib Dich, Felice, nicht solchen Täuschungen! Nicht 2 Tage könntest Du neben mir leben. Heute bekam ich einen Brief eines 18 jährigen Gymnasiasten, den ich 2 oder 3 mal bei Baum gesehen habe. Er nennt sich am Schluß des Briefes meinen "sehr ergebenen Anhänger". Mir wird übel, wenn ich daran denke. Was für falsche Meinungen! Und ich kann nicht genügend weit die Brust aufreißen, um alles zu zeigen und abzuschrecken. Wobei freilich gesagt werden muß, dass ich den Gymnasiasten, selbst wenn ich ein Held wäre, abschrecken wollte, denn er gefällt mir (wahrscheinlich wegen seiner Jugend) nicht, während ich Dich, Liebste, und immer wieder Liebste herunterreißen wollte zu dieser großen Gebrechlichkeit, die ich darstelle.

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at