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An Felice Bauer
Nein, das genügt mir nicht. Ich fragte, ist es nicht Mitleid, was
Du vor allem für mich fühlst. Und ich habe die Frage begründet.
Du sagst bloß: nein. Aber ich war doch ein anderer damals, als ich
Dir den ersten Brief schrieb, den ich vor paar Tagen beim oberflächlichen
Ordnen meines Schreibtisches (anders als oberflächlich wird er nicht
geordnet) in der Durchschlagkopie gefunden habe (es ist die einzige Kopie
eines Briefes, die ich habe). Ich war anders, das wirst Du nicht leugnen
können und wenn ich auch hie und da verfallen bin, so habe ich mich
doch leicht zurückgefunden. Habe ich Dich also irregeführt bis
in diese traurigen Zeiten hinein? Es gibt nur die zwei Möglichkeiten:
entweder hast Du nur Mitleid mit mir, warum dränge ich mich dann in
Deine Liebe, verlege Dir allewege, zwinge Dich, mir jeden Tag zu schreiben,
an mich zu denken, tyrannisiere Dich mit der ohnmächtigen Liebe eines
Ohnmächtigen und suche nicht lieber eine Möglichkeit, Dich schonend
von mir zu befreien, das Bewußtsein von Dir bemitleidet zu werden
in der Stille allein zu genießen und auf diese Weise wenigstens Deines
Mitleides würdig zu sein. Oder aber, Du bemitleidest mich nicht ausschließlich,
sondern bist irregeführt worden im Laufe des halben Jahres, hast nicht
den richtigen Einblick in mein elendes Wesen, liest über meine Eingeständnisse
hinweg und hinderst Dich unbewußt, ihnen zu glauben, so sehr es Dich
wieder anderseits kraft Deiner Natur dazu drängen muß. Warum
nehme ich dann nicht aber alles zusammen, was ich noch habe, um Dir die
Lage der Dinge ganz klar zu machen, warum wähle ich nicht die eindeutigsten
kürzesten Worte, die nicht übersehen, mißverstanden und
vergessen werden können? Habe ich vielleicht noch irgendeine Hoffnung
oder spiele ich mit einer solchen Hoffnung, Du könntest mir erhalten
bleiben? Wenn dem so ist und es scheint manchmal so zu sein, dann wäre
es meine Pflicht, aus mir herauszutreten und ohne Rücksicht Dich gegen
mich zu verteidigen.
Es gibt aber doch noch eine dritte Möglichkeit: vielleicht bemitleidest
Du mich nicht ausschließlich und verstehst auch meinen gegenwärtigen
Zustand richtig, glaubst aber, dass ich einmal doch noch ein brauchbarer
Mensch werden kann, mit dem ein gleichmäßiger, ruhiger, lebendiger
Verkehr möglich ist. Wenn Du das glaubst, so täuschst Du Dich
schrecklich, ich sagte Dir schon, mein gegenwärtiger Zustand (und
heute ist er noch vergleichsweise paradiesisch) ist kein Ausnahmszustand.
Ergib Dich, Felice, nicht solchen Täuschungen! Nicht 2 Tage könntest
Du neben mir leben. Heute bekam ich einen Brief eines 18 jährigen
Gymnasiasten, den ich 2 oder 3 mal bei Baum gesehen habe. Er nennt sich
am Schluß des Briefes meinen "sehr ergebenen Anhänger".
Mir wird übel, wenn ich daran denke. Was für falsche Meinungen!
Und ich kann nicht genügend weit die Brust aufreißen, um alles
zu zeigen und abzuschrecken. Wobei freilich gesagt werden muß, dass
ich den Gymnasiasten, selbst wenn ich ein Held wäre, abschrecken wollte,
denn er gefällt mir (wahrscheinlich wegen seiner Jugend) nicht, während
ich Dich, Liebste, und immer wieder Liebste herunterreißen wollte
zu dieser großen Gebrechlichkeit, die ich darstelle.
Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at