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An Felice Bauer

vom 2. zum 3. III. 13
 


Meine Schwestern mit ihren Männern sind fortgegangen, es ist schon ½11, aber mein Vater hat sich noch hingesetzt und die Mutter zum Kartenspiel kommandiert. Ich bin infolge meiner neuesten leicht verkühlbaren Konstitution auf das Wohnzimmer angewiesen und schreibe also bei den Geräuschen des Kartenspiels. Mir gegenüber sitzt die Mutter, rechts von mir am Kopfende des Tisches der Vater. Ich habe der Mutter eben, als der Vater eine Wasserflasche vor die Balkontür getragen hat, ohne mein Schreiben zu unterbrechen, zugeflüstert: "Geht schon schlafen", sie möchte wohl auch gern, aber es ist eben schwer.

"Zwei letzten doppelt", hat gerade der Vater gesagt, was bedeutet, dass zumindest noch zwei Spiele gemacht werden müssen und das kann unter Umständen noch sehr lange dauern.

Ich habe vorher wieder einmal einen Spaziergang mit meiner Schwester gemacht und es sind mir, während wir von andern Dingen sprachen, in einem Einsamkeitsgefühl, das ich oft gerade in Gesellschaft habe (was natürlich auch bei andern nichts Seltenes ist), Gedanken darüber durch den Kopf gegangen, ob Du mich, Liebste (immer wieder Liebste, denn ich habe niemanden sonst und werde niemanden haben) noch so leiden kannst wie früher. Ich höre eine Änderung Deiner Meinung über mich nicht so sehr an Deinen Briefen heraus, vielmehr aus Deinen Briefen gar nicht.

(Es ist 1 Uhr vorüber, ich bin, Liebste, inzwischen von meiner Geschichte [Liman-Fragment fast gänzlich abgeworfen worden -heute war die Entscheidung und sie ist gegen mich ausgefallen -und krieche nun förmlich, wenn Du mich willst, zu Dir zurück.) Diese Änderung Deiner Meinung folgere ich hauptsächlich aus meinem Benehmen in der letzten Zeit und sage mir, dass es unmöglich ist, an Deiner frühere Stelle auszuhalten. Das was mich in der letzten Zeit ergriffen hatte, ist kein Ausnahmszustand, ich kenne ihn 15 Jahre lang, ich war mit Hilfe des Schreibens für längere Zeit aus ihm herausgekommen und habe in Unkenntnis dessen, wie schrecklich provisorisch dieses "Herauskommen" war, den Mut gehabt, mich an Dich zuwenden und habe auf meine scheinbare Wiedergeburt pochend geglaubt, vor jedem die Verantwortung dafür übernehmen zu können, dass ich versuchte, Dich, das Liebste, was ich in meinem Leben gefunden hatte, zu mir herüberzuziehn. Wie habe ich mich nun aber in den letzten Wochen Dir dargestellt?Wie kannst Du bei gesunden Sinnen Dich noch in meiner Nähe halten? Ich zweifle nicht, dass Du unter gewöhnlichen Umständen den Mut hättest, Deine wahre Meinung auszusprechen, selbst wenn nur der Schein einer Änderung eingetreten wäre. Aber Deine Offenheit, Liebste, ist nicht größer als Deine Güte. Und ich fürchte eben, dass, selbst wenn ich Dir widerlich würde-schließlich bist Du doch ein Mädchen und willst einen Mann und nicht einen weichen Wurm auf der Erde -, selbst wenn ich Dir widerlich würde, Deine Güte nicht versagen könnte. Du siehst, wie ich Dir gehöre-wirft man aber eine Sache, die einem so gehört, rücksichtslos weg, selbst wenn es einem die vernünftige Rücksicht auf sich selbst befiehlt? Und Du vor allen -würdest Du das tun? Könntest Du das Mitleid überwinden? Du, welche von dem Unglück eines jeden in Deinem Kreise so erschüttert wird? Aber auf der andern Seite bin doch ich. Ich leugne nicht, dass ich es sehr gut aushalten würde, vom Mitleid eines andern mich zu nähren, doch würde ich es gewiß nicht aushalten, die Früchte eines Mitleids zu genießen, das Dich vernichten muß. Bedenke das, Liebste, bedenke das! Vergleichsweise würde ich alles andere besser ertragen als gerade dieses. Jedes Wort, aus welchem Gefühl es auch komme besser als jenes Mitleid. Dieses Mitleid, das meinem Wohle zugedacht wäre, müßte sich in der Wirkung schließlich gegen mich wenden. Du bist weit und ich sehe Dich nicht- aber wenn Du Dich vor Mitleid aufzehren solltest, würde ich es doch wissen. Darum Liebste, beantworte mir heute - wo es gewiß noch nicht so weit ist - zu meiner Sicherheit ohne auszuweichen folgende Frage: Solltest Du einmal mit einer, wenigstens die meisten Zweifel ausschließenden, Klarheit einsehe dass ich Dir, wenn auch vielleicht mit einigen Schwierigkeiten, doch entbehrlich bin, solltest Du einsehe, dass ich Dir in Deinem Lebensplan (warum höre ich nichts von diesem? ) hinderlich bin, solltest Du einsehn, dass Du, ein gütiger, tätiger, lebhafter, seiner selbst sicherer Mensch mit der Verwirrung oder besser mit der einförmigen Verschwommenheit meines Wesens keine oder nur eine Dich schädigende Gemeinsamkeit haben könntest - würdest Du dann, Liebste (antworte bitte nicht leichthin, bleibe Dir der Verantwortung Deiner Antwort bewußt!) würdest Du, ohne auf Dein Mitleid zu hören es mir offen sagen können? Nochmals: hier ist nicht die Wahrheitsliebe in Frage, sondern die Güte! Und eine Antwort, die bloß die Möglichkeit der Voraussetzungen meiner Frage leugnen würde, wäre keine Antwort, die mir, die meiner Angst um Dich genügen könnte. Vielmehr es wäre schon eine genügende Antwort, nämlich das Zugeständnis des unüberwindlichen Mitleids. - Aber warum frage ich überhaupt und quäle Dich! Ich weiß ja die Antwort.

Liebste, gute Nacht. Ich werde von diesem Brief aufstehn und nicht eigentlich aus Müdigkeit, eher aus Zerstreutheit und Aussichtslosigkeit schlafen gehe.

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at