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An Felice Bauer
Meine Schwestern mit ihren Männern sind fortgegangen, es ist schon
½11, aber mein Vater hat sich noch hingesetzt und die Mutter zum
Kartenspiel kommandiert. Ich bin infolge meiner neuesten leicht verkühlbaren
Konstitution auf das Wohnzimmer angewiesen und schreibe also bei den Geräuschen
des Kartenspiels. Mir gegenüber sitzt die Mutter, rechts von mir am
Kopfende des Tisches der Vater. Ich habe der Mutter eben, als der Vater
eine Wasserflasche vor die Balkontür getragen hat, ohne mein Schreiben
zu unterbrechen, zugeflüstert: "Geht schon schlafen",
sie möchte wohl auch gern, aber es ist eben schwer.
"Zwei letzten doppelt", hat gerade der Vater gesagt, was bedeutet,
dass zumindest noch zwei Spiele gemacht werden müssen und das
kann unter Umständen noch sehr lange dauern.
Ich habe vorher wieder einmal einen Spaziergang mit meiner Schwester gemacht
und es sind mir, während wir von andern Dingen sprachen, in einem
Einsamkeitsgefühl, das ich oft gerade in Gesellschaft habe (was natürlich
auch bei andern nichts Seltenes ist), Gedanken darüber durch den Kopf
gegangen, ob Du mich, Liebste (immer wieder Liebste, denn ich habe niemanden
sonst und werde niemanden haben) noch so leiden kannst wie früher.
Ich höre eine Änderung Deiner Meinung über mich nicht so
sehr an Deinen Briefen heraus, vielmehr aus Deinen Briefen gar nicht.
(Es ist 1 Uhr vorüber, ich bin, Liebste, inzwischen von meiner Geschichte
[Liman-Fragment fast gänzlich abgeworfen worden -heute war die Entscheidung
und sie ist gegen mich ausgefallen -und krieche nun förmlich, wenn
Du mich willst, zu Dir zurück.) Diese Änderung Deiner Meinung
folgere ich hauptsächlich aus meinem Benehmen in der letzten Zeit
und sage mir, dass es unmöglich ist, an Deiner frühere Stelle
auszuhalten. Das was mich in der letzten Zeit ergriffen hatte, ist kein
Ausnahmszustand, ich kenne ihn 15 Jahre lang, ich war mit Hilfe des Schreibens
für längere Zeit aus ihm herausgekommen und habe in Unkenntnis
dessen, wie schrecklich provisorisch dieses "Herauskommen"
war, den Mut gehabt, mich an Dich zuwenden und habe auf meine scheinbare
Wiedergeburt pochend geglaubt, vor jedem die Verantwortung dafür übernehmen
zu können, dass ich versuchte, Dich, das Liebste, was ich in
meinem Leben gefunden hatte, zu mir herüberzuziehn. Wie habe ich mich
nun aber in den letzten Wochen Dir dargestellt?Wie kannst Du bei gesunden
Sinnen Dich noch in meiner Nähe halten? Ich zweifle nicht, dass
Du unter gewöhnlichen Umständen den Mut hättest, Deine wahre
Meinung auszusprechen, selbst wenn nur der Schein einer Änderung eingetreten
wäre. Aber Deine Offenheit, Liebste, ist nicht größer als
Deine Güte. Und ich fürchte eben, dass, selbst wenn ich
Dir widerlich würde-schließlich bist Du doch ein Mädchen
und willst einen Mann und nicht einen weichen Wurm auf der Erde -, selbst
wenn ich Dir widerlich würde, Deine Güte nicht versagen könnte.
Du siehst, wie ich Dir gehöre-wirft man aber eine Sache, die einem
so gehört, rücksichtslos weg, selbst wenn es einem die vernünftige
Rücksicht auf sich selbst befiehlt? Und Du vor allen -würdest
Du das tun? Könntest Du das Mitleid überwinden? Du, welche von
dem Unglück eines jeden in Deinem Kreise so erschüttert wird?
Aber auf der andern Seite bin doch ich. Ich leugne nicht, dass ich
es sehr gut aushalten würde, vom Mitleid eines andern mich zu nähren,
doch würde ich es gewiß nicht aushalten, die Früchte eines
Mitleids zu genießen, das Dich vernichten muß. Bedenke das,
Liebste, bedenke das! Vergleichsweise würde ich alles andere besser
ertragen als gerade dieses. Jedes Wort, aus welchem Gefühl es auch
komme besser als jenes Mitleid. Dieses Mitleid, das meinem Wohle zugedacht
wäre, müßte sich in der Wirkung schließlich gegen
mich wenden. Du bist weit und ich sehe Dich nicht- aber wenn Du Dich vor
Mitleid aufzehren solltest, würde ich es doch wissen. Darum Liebste,
beantworte mir heute - wo es gewiß noch nicht so weit ist - zu meiner
Sicherheit ohne auszuweichen folgende Frage: Solltest Du einmal mit einer,
wenigstens die meisten Zweifel ausschließenden, Klarheit einsehe
dass ich Dir, wenn auch vielleicht mit einigen Schwierigkeiten, doch
entbehrlich bin, solltest Du einsehe, dass ich Dir in Deinem Lebensplan
(warum höre ich nichts von diesem? ) hinderlich bin, solltest
Du einsehn, dass Du, ein gütiger, tätiger, lebhafter, seiner
selbst sicherer Mensch mit der Verwirrung oder besser mit der einförmigen
Verschwommenheit meines Wesens keine oder nur eine Dich schädigende
Gemeinsamkeit haben könntest - würdest Du dann, Liebste (antworte
bitte nicht leichthin, bleibe Dir der Verantwortung Deiner Antwort bewußt!)
würdest Du, ohne auf Dein Mitleid zu hören es mir offen sagen
können? Nochmals: hier ist nicht die Wahrheitsliebe in Frage, sondern
die Güte! Und eine Antwort, die bloß die Möglichkeit der
Voraussetzungen meiner Frage leugnen würde, wäre keine Antwort,
die mir, die meiner Angst um Dich genügen könnte. Vielmehr es
wäre schon eine genügende Antwort, nämlich das Zugeständnis
des unüberwindlichen Mitleids. - Aber warum frage ich überhaupt
und quäle Dich! Ich weiß ja die Antwort.
Liebste, gute Nacht. Ich werde von diesem Brief aufstehn und nicht eigentlich
aus Müdigkeit, eher aus Zerstreutheit und Aussichtslosigkeit schlafen
gehe.
Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at