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An Felice Bauer
Spät, Liebste, spät. Ich habe eine Arbeit für das Bureau
gemacht und dabei ist es spät geworden. Kalt ist mir auch. Sollte
ich mich wieder verkühlt haben? Es ist recht widerlich; meine linke
Seite wird ständig kalt angeweht.
Wie kannst Du nur sagen, dass ich Dir deshalb böse sein könnte,
wenn einmal kein Brief kommt? Begreife und präge es Dir doch ein,
dass ich Dir in allem dankbar seilt muß, was Du mir gibst, und
dass ein liebes Wort, das Du an mich richtest, ebenso für mich
wie vor einem höhen Richter mehr wert ist als der ganze Haufen meiner
Briefe. Zwinge Dir deshalb ja nicht, in der Hetze, in der Du jetzt lebst,
Briefe ab, lasse ruhig auch einen Tag ohne Brief vergehn, wenn es Dir nur
ein wenig des für Dich so notwendigen Schlafes wegnehmen würde,
rund wisse, dass ich hier auf den nächsten Brief, wie viele Du
auch ausgelassen haben möchtest, unverändert warte. Darin bin
ich unverändert, wie sehr auch sonst alles andere um mich fliegt und
wechselt.
Heute abend und auch während des Tages war ich ruhiger und sicherer
als sonst, jetzt ist wieder alles dahin. Ich wollte übrigens den Menschen
sehn, der ohne Schaden meine Lebensweise, vor allem diese abendlichen einsamen
Spaziergänge aushalten würde. Zuhause spreche ich fast mit niemandem,
die Verbindung mit meiner Schwester, die schließlich hauptsächlich
auf meinem Schreiben beruhte, ist nun auch ganz locker. Du und ich, wir
leben jetzt ganz entgegengesetzt, Du hast immerfort Leute um Dich, ich
niemanden fast, die Leute im Bureau sind kaum zu rechnen, gar jetzt, wo
ich seit einigen Tagen mehr schlafe und die Arbeit mir nicht so schwer
fällt. Sie ist gerade so gleichgültig wie ich, wir passen zusammen.
In den nächsten Tagen werde ich sogar Vice-Sekretär,
es geschieht mir ganz recht.
Letzthin ging ich durch die Eisengasse, da sagt jemand neben mir: "Was
macht Karl?" Ich drehe mich um; ich sehe einen Mann, der ohne sich
um mich zu kümmern im Selbstgespräch weitergeht und auch diese
Frage im Selbstgespräch gestellt hatte. Nun heißt aber Karl die
Hauptperson in meinem unglücklichen Roman und jener harmlose vorübergehende
Mann hatte unbewußt die Aufgabe mich auszulachen, denn für eine
Aufmunterung kann ich das wohl nicht halten.
Letzthin fragtest Du mich im Anschluß an den Brief meines Onkels
nach meinen Plänen und Aussichten. Ich habe über die Frage gestaunt,
jetzt bei der Frage jenes unbekannten Mannes fällt sie mir wieder
ein. Ich habe natürlich gar keine Pläne, gar keine Aussichten,
in die Zukunft gehen kann ich nicht, in die Zukunft stürzen, in die
Zukunft mich wälzen, in die Zukunft stolpern, das kann ich und am
besten kann ich liegen bleiben. Aber Pläne und Aussichten habe ich
wahrhaftig keine, geht es mir gut, bin ich ganz von der Gegenwart erfüllt,
geht es mir schlecht, verfluche ich schon die Gegenwart, wie erst die Zukunft!
Franz
Vice-Sekretär: Kafka wurde am 1. März
1913 zum Vice-Sekretär der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt ernannt.
Sein ausführliches Gesuch um Gehalts- und Rangerhöhung vom 11.
Dezember 1912 veröffentlichte Jaromir Loužil in der Zeitschrift
Sborník Národního Musea v Praze VIII (1963)
Nr. 2, S. 65 ff.
Letzte Änderung: 8.6.2016 werner.haas@univie.ac.at