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An Felice Bauer

vom 28. [Februar] zum 1.III. [1913]
 


Spät, Liebste, spät. Ich habe eine Arbeit für das Bureau gemacht und dabei ist es spät geworden. Kalt ist mir auch. Sollte ich mich wieder verkühlt haben? Es ist recht widerlich; meine linke Seite wird ständig kalt angeweht.

Wie kannst Du nur sagen, dass ich Dir deshalb böse sein könnte, wenn einmal kein Brief kommt? Begreife und präge es Dir doch ein, dass ich Dir in allem dankbar seilt muß, was Du mir gibst, und dass ein liebes Wort, das Du an mich richtest, ebenso für mich wie vor einem höhen Richter mehr wert ist als der ganze Haufen meiner Briefe. Zwinge Dir deshalb ja nicht, in der Hetze, in der Du jetzt lebst, Briefe ab, lasse ruhig auch einen Tag ohne Brief vergehn, wenn es Dir nur ein wenig des für Dich so notwendigen Schlafes wegnehmen würde, rund wisse, dass ich hier auf den nächsten Brief, wie viele Du auch ausgelassen haben möchtest, unverändert warte. Darin bin ich unverändert, wie sehr auch sonst alles andere um mich fliegt und wechselt.

Heute abend und auch während des Tages war ich ruhiger und sicherer als sonst, jetzt ist wieder alles dahin. Ich wollte übrigens den Menschen sehn, der ohne Schaden meine Lebensweise, vor allem diese abendlichen einsamen Spaziergänge aushalten würde. Zuhause spreche ich fast mit niemandem, die Verbindung mit meiner Schwester, die schließlich hauptsächlich auf meinem Schreiben beruhte, ist nun auch ganz locker. Du und ich, wir leben jetzt ganz entgegengesetzt, Du hast immerfort Leute um Dich, ich niemanden fast, die Leute im Bureau sind kaum zu rechnen, gar jetzt, wo ich seit einigen Tagen mehr schlafe und die Arbeit mir nicht so schwer fällt. Sie ist gerade so gleichgültig wie ich, wir passen zusammen. In den nächsten Tagen werde ich sogar Vice-Sekretär, es geschieht mir ganz recht.

Letzthin ging ich durch die Eisengasse, da sagt jemand neben mir: "Was macht Karl?" Ich drehe mich um; ich sehe einen Mann, der ohne sich um mich zu kümmern im Selbstgespräch weitergeht und auch diese Frage im Selbstgespräch gestellt hatte. Nun heißt aber Karl die Hauptperson in meinem unglücklichen Roman und jener harmlose vorübergehende Mann hatte unbewußt die Aufgabe mich auszulachen, denn für eine Aufmunterung kann ich das wohl nicht halten.

Letzthin fragtest Du mich im Anschluß an den Brief meines Onkels nach meinen Plänen und Aussichten. Ich habe über die Frage gestaunt, jetzt bei der Frage jenes unbekannten Mannes fällt sie mir wieder ein. Ich habe natürlich gar keine Pläne, gar keine Aussichten, in die Zukunft gehen kann ich nicht, in die Zukunft stürzen, in die Zukunft mich wälzen, in die Zukunft stolpern, das kann ich und am besten kann ich liegen bleiben. Aber Pläne und Aussichten habe ich wahrhaftig keine, geht es mir gut, bin ich ganz von der Gegenwart erfüllt, geht es mir schlecht, verfluche ich schon die Gegenwart, wie erst die Zukunft!

Franz




Vice-Sekretär: Kafka wurde am 1. März 1913 zum Vice-Sekretär der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt ernannt. Sein ausführliches Gesuch um Gehalts- und Rangerhöhung vom 11. Dezember 1912 veröffentlichte Jaromir Loužil in der Zeitschrift Sborník Národního Musea v Praze VIII (1963) Nr. 2, S. 65 ff.


Letzte Änderung: 8.6.2016werner.haas@univie.ac.at