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An Felice Bauer

vom 20. Zum 21.II.13
 


Spät, spät. Wieder einen unnötigen Abend mit verschiedenen Leuten verbracht. Ohne Halt - ich schreibe ja nicht, und Du bist in Berlin - lasse ich mich hinschleppen, wohin man will. Eine junge Frau hat von ihrem kleinen wilden Jungen erzählt, das war noch das Beste, und selbst das konnte ich bei weitem nicht vollständig ertragen, zuckte mit den Blicken teilnahmslos - trotzdem sie mir gefiel - über sie hin, verwirrte sie wahrscheinlich mit diesen mechanischen Augenbewegungen, biß mir in die Lippen, tun mich bei der Sache zu halten, war aber trotz aller Anstrengung doch nicht da, war aber durchaus auch nicht anderswo; existierte ich also vielleicht nicht in diesen zwei Stunden? Es muß so sein, denn hätte ich dort auf meinem Sessel geschlafen, meine Gegenwart wäre überzeugender gewesen.

Dafür aber hatte ich einen schönen Vormittag. Noch als ich früh ins Bureau ging, war mir alles so widerlich und langweilig, dass ich auf dem Weg ins Bureau, trotzdem gar nicht besonders spät war, plötzlich eine Strecke lang zu laufen anfing, und das zu keinem andern Zweck, als die Widerlichkeit der Welt ein wenig in Bewegung zu bringen und dadurch erträglicher zu machen. Aber als ich dann Deinen Brief hatte und darin das las, was ich mir in der Nacht zu lesen gewünscht hatte, dass Du nach Raphael mitfahren willst oder wenigstens daran denkst, bekam die Welt, in der es also doch solche Möglichkeiten gibt, ein Aussehen für mich, wie sie es schon durch Wochen nicht gehabt hat. Du würdest also mitfahren, wir wären dort beisammen, wir würden nebeneinander am Geländer des Meeres stehn, nebeneinander auf einer Bank unter Palmen sitzen, alles was geschehen würde, wäre ein "Nebeneinander". Dieses Herz, in das ich mich zurückziehn wollte von allem und für immer, würde neben mir schlagen. Es geht mir noch jetzt ein Schauer über das Gesicht. So muß es ja bei der Vorstellung von Unmöglichem sein, Du hast es ja auch nur als Märchen geschrieben: "ich suche Dir ein schönes Plätzchen, und dann lasse ich Dich allein." Höre Liebste, die Unmöglichkeit dessen entspricht dieser Tonart, denn selbst wenn die für eine gemeinsame Reise als Voraussetzung nötigen Wunder eines nach dem andern sich erfüllen sollten, und wir vor dem Zuge stünden, der in der nächsten Minute nach Genua fahren sollte - ich müßte doch zurückbleiben, es wäre meine selbstverständliche Pflicht. Niemals dürfte ich es wagen, in dem Zustand, in dem ich jetzt z. B. bin, oder in der Voraussicht der immer bestehenden Möglichkeit eines solchen Zustandes Dein Reisebegleiter sein zu wollen. Ich gehöre allein in den Winkel eines Coupés; dort soll ich bleiben. Niemals darf ich den Zusammenhang mit Dir, den ich mit meinen letzten Kräften erhalten will, durch eine solche Reisebegleitung gefährden.

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at