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An Felice Bauer
Liebste, heute abend auf dem langen Spaziergang, den ich allein in der
Kälte (bin ich wieder verkühlt? Über meinen Rücken
gehen wirkliche oder eingebildete Schauer) kreuz und quer durch die Stadt,
über den Hradschin, rund um den Dom und über das Belvedere machte,
habe ich Dir in Gedanken endlose Briefe geschrieben, und wenn Du auch durch
diese Schreibarbeit Einzelheiten nicht erfahren haben kannst, so muß
es Dir doch, Liebste, wieder einmal eingegangen sein - wäre es das
nicht, ich wußte mir keinen Rat -, dass ich über allem,
unter allem, was ich Dir schreibe und was bei den Launen und Schwächezuständen,
die sich in meine Existenz teilen, leicht ein abstoßendes, künstliches,
oberflächliches, kokettes, falsches, bösartiges, unzusammenhängendes
Aussehen annehmen kann oder vielleicht gar nicht nur so aussieht, sondern
unleugbar so ist, - dennoch, dennoch, in dem Grunde, in dem zeitweise sogar
mir selbst verschlossenen Grunde, alles Schlechte, was ich tue und schreibe,
erkenne, richtig bewerte und vor Hilflosigkeit weine. Daß Du mich
lieb hast, Felice, ist ja mein Glück, aber meine Sicherheit ist es
nicht, denn Du kannst Dich ja täuschen, vielleicht führe ich
da im Schreiben Künste auf, die Dich täuschen, Du hast mich ja
kaum gesehn, kaum mich reden gehört, kaum unter meinem Schweigen gelitten,
weißt nichts von den zufälligen und notwendigen Häßlichkeiten
die vielleicht meine Nähe für Dich mit sich bringt - meine Sicherheit
liegt vielmehr darin, dass ich Dich liebe, dass ich Dich
an dem kurzen Abend erkannt habe, von Dir mich ergriffen fühlte, dass
ich nicht schwächer als diese Liebe war, sondern diese Probe bestanden
habe, dass sich diese Liebe meiner Natur eingeordnet hat, als wäre
sie mit mir auf die Welt gekommen und nur erst jetzt begriffen worden.
Täusche Dich, Liebste, nicht über den Schrecken, den Du hattest,
als Du hörtest, dass Deine Mutter meine Briefe gelesen hatte.
(Was ist doch Dein Vater für ein merkwürdiger Mann! Sieht behäbig
und ernst aus, liebt ein lustiges Leben, weint über Romanen, nimmt
Dich gegenüber der Mutter in einer äußerlich so fragwürdigen
Sache in Schutz!) Es war nicht eigentlich der Schrecken vor der Mutter.
Ich fürchte, er war es nicht eigentlich, denk nur darüber nach.
Du stehst doch genug selbständig in der Familie da, die Mutter hatte
auch schon einmal die Briefe gelesen und es hatte, soviel ich weiß,
keine besonderen Folgen gehabt. Die eigentliche Wirkung jener Nachricht
war eher die, dass in den kleinen (in Wirklichkeit, Gott, so riesenhaft
großen) Raum, in den Du, Liebste, zu mir gekommen warst (so wie Du
eben in Deinem Traum über das Geländer im traumhaften Leichtsinn
zu dem Tiefstehenden gesprungen bist), jetzt von der Mutter her ein fremder,
kalter Blick drang, Dich frösteln ließ und Dir zu denken gab,
indem er Dich das, was Du bisher nur aus engster Nähe gesehen hattest,
einmal aus der Ferne sehen ließ. Wären wir wieder allein und
nie gestört!
Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at