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An Felice Bauer
Heute abend war ich wieder bei Brod, und wenn es auch vielleicht ein Fehler
war, so lange dort zu bleiben, statt nachhause zu gehn und etwas Vernünftiges
zu machen oder mir irgend etwas Vernünftiges vorzutäuschen -
so habe ich mich doch dort zu wohl gefühlt, als dass ich, der
ich dieses Wohlgefühl bei Menschen so selten habe, mich hätte
entschließen können, vom Kanapee aufzustehn und mich bald zu
verabschieden. Übrigens war auch Weltsch da, wir haben sehr viel gelacht;
jetzt, zwei Stunden später, verstehe ich gar nicht, wie ich lachen
konnte, ich kann mich kreuz und quer durchsuchen und finde in mir nicht
die Spur eines Anlasses zum Lachen. Worüber habe ich mich dort nur
gefreut?
Sophie, die ja sehr liebenswürdig zu nur ist und seit jeher die Gewohnheit
hat, während des Gespräches durch Streicheln ud Beider-Hand-Fassen
mich, wenn auch ohne böse Absicht, in Verlegenheit zu bringen, hat
heute gar nichts von Dir erzählt, da war immer nur die Rede von ihrem
Mann, von Telegrammen, Expreßbriefen und Telephongesprächen.
"Und Felice?", fragte ich mit den Augen, aber sie verstand
mich nicht. Einmal nur wurde von Dir gesprochen, freilich ohne dass
es jemand gemerkt hätte. Ich sagte nämlich mitten in einem andern
Gespräch zu Sophie: "Was wollte ich Sie nur fragen?" Das
wiederholte ich dann, es sah ein wenig blödsinnig aus, mehrere Male,
aber ich schien mich wirklich nicht erinnern zu können. Aber was sollte
ich auch tun? Ich könnte doch nicht plötzlich losschreien: "Jetzt
also Schluß! Jetzt will ich nur noch von Felice hören, sonst
nichts." Meine Meinung war es, glaube mir. Ich hatte ja heute Deinen
großen Brief (freilich sah ich, während mir beim Lesen das Herz
vor Freude und Behaglichkeit klopfte, das schöne Sonntagswetter vor
Deinem Fenster und Dich drinnen im Zimmer über den Brief gebeugt)
und dadurch war ich auch ein großer Herr, aber große Herren
sind eben desto unersättlicher.
Liebste, der großen Frage bist Du ausgewichen. Das Glück der
mit Dir gemeinsam zu verbringenden Stunden will ich ja mit keinem Gedanken
noch anrühren. Wenn sich alles folgerichtig aus meinem Gefühl,
das ich für Dich in meinen besten Stunden habe, ergeben würde,
dann wäre Berlin, in dem wir nebeneinander sein werden, nicht in Berlin,
sondern in den Wolken. Aber danach sollte ja das Frl. Lindner nicht fragen;
sie sollte nur fragen, warum ich, der ich mich mit Briefen so zu Dir dränge,
es nicht in Person tue. Und Du solltest ihr einen Teil der Antwort sagen
und einen Teil vielleicht verschweigen. Es ist doch so leicht möglich,
dass sie fragt. Wirst Du dann bloß sagen und denken: "Ich
weiß nicht"?
Deine Schwester Toni habe ich mir nach dem Bild und nach dem, was ich sonst
von ihr gehört habe, ganz anders gedacht, als Du sie jetzt beschreibst.
Sie schien mir schläfrig, dumpf und traurig, und nun ist sie gar das.
Gegenteil. Und ist auch schlagfertig, hat also eine Eigenschaft, die ich
ebensosehr bewundere, wie ich vor ihr davonlaufe. Von Deiner Schwester
Erna weiß ich noch wenig, nur die schönen Kindergeschichten.
- Bitte Liebste, möchtest Du mir nicht für einen Tag Dein Bücherverzeichnis
borgen? Dein Zimmer kenne ich jetzt beiläufig, da will ich nun auch
ein wenig in Deinen Kasten kriechen.
Franz
[am Rande] Die Adresse auf dem heutigen Brief war undeutlich geschrieben,
ich hatte noch nachträglich Angst.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at