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An Felice Bauer

vom 9, zum 10.II.13
 


Liebste, es ist schon wieder so spät und eigentlich war ich wieder daran schuld (rascher Feder! dass ich Felice, meiner Felice, ganz nahe komme nach dieser langen Zeit), aber ich konnte nicht anders. Ich kam gebrochen vom Spaziergang nachhause, ich war so gelockert in meiner Haut, dass mich nur irgend jemand hätte schütteln müssen und ich hätte mich ganz verloren. Ich las also meiner Schwester (meine Eltern waren heute bei Verwandten in Kolin und kamen erst jetzt, auch die Begrüßung hat mich aufgehalten) etwas aus meiner guten Zeit vor, vielleicht das Beste, was ich gemacht habe, sie kannte es noch nicht, es stammt, glaube ich, aus der Zeit, als ich auf Deinen zweiten Brief wartete. Ich bin ganz heiß vom Lesen geworden und wenn ich nachmittag mich nicht auf den Landstraßen herumgetrieben hätte, wer weiß, ich setzte mich vielleicht zum Schreiben nieder und schriebe etwas Ordentliches, das mich aus der Vertiefung, in die ich merklich versinke, mit einem Mal in die Höhe reißen könnte. So aber werde ich nichts dergleichen tun, sondern schlafen gehn, so wie ich bin, und gewiß noch lange nichts schreiben und mir, Dir und der Welt eine Plage sein.

Gestern abend habe ich Dir nicht geschrieben, weil es über Michael Kohlhaas zu spät geworden ist (kennst Du ihn? Wenn nicht, dann lies ihn nicht! Ich werde Dir ihn vorlesen!), den ich bis auf einen kleinen Teil, den ich schon vorgestern gelesen hatte, in einem Zug gelesen habe. Wohl schon zum zehnten Male. Das ist eine Geschichte, die ich mit wirklicher Gottesfurcht lese, ein Staunen faßt mich über das andere, wäre nicht der schwächere, teilweise grob hinuntergeschriebene Schluß, es wäre etwas Vollkommenes, jenes Vollkommene, von dem ich gern behaupte, dass es nicht existiert. (Ich meine nämlich, selbst jedes höchste Literaturwerk hat ein Schwänzchen der Menschlichkeit, welches, wenn man will und ein Auge dafür hat, leicht zu zappeln anfängt und die Erhabenheit und Gottähnlichkeit des Ganzen stört.)

Liebste, sag warum liebst Du gerade einen so unglücklichen, mit seinem Unglück auf die Dauer gewiß ansteckenden Jungen? Ich ging heute auf dem Ausflug mit einem vernünftigen Mädchen, das brav ist und das ich seit jeher gut leiden kann. Wie klagte sie mir aber (ich komme 1 mal im ¼ Jahr mit ihr zusammen) über ihre Lage, mir wurde ganz übel. Aber als wir dann alle bei Tische waren und ein lustiger Junge sie zu necken anfing, war sie so schlagfertig, wie man nur wünschen konnte, und besiegte ihn. Ich muß einen Dunstkreis von Unglück mit mir führen. Aber nicht Angst haben, Liebste, und bei mir bleiben! Ganz nahe bei mir!

Franz




etwas aus meiner guten Zeit : Wahrscheinlich "Der Heizer", das erste Kapitel des Amerika-Romans Der Verschollene.


Michael Kohlhaas: Mitte Dezember 1913 las Kafka in der Prager Toynbeehalle aus Kleists Michael Kohlhaas öffentlich vor. Vgl. Tagebücher (11. Dezember 1913), S. 341.


Letzte Änderung: 4.5.2016werner.haas@univie.ac.at