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An Felice Bauer

vom 9. zum 10. II. 13 [vermutlich in der Nacht vom 7. zum 8. Februar 1913]
 


Ich setze mich ein wenig verwirrt zum Schreiben hin, ich habe manches durcheinander gelesen, es geht ineinander über, und wenn man durch solches Lesen einen Ausweg für sich zu finden hofft, so täuscht man sich; man steht an einer Mauer und kann nicht weiter. Dein Leben ist so ganz anders, Liebste. Hast Du jemals, außer wenn es auf Beziehungen zu Nebenmenschen ankam, Unsicherheit gekannt, gesehn, wie sich für Dich allein, ohne Rücksicht auf andere, verschiedene Möglichkeiten hierhin und dorthin eröffnen und damit eigentlich ein Verbot entsteht, Dich überhaupt zu rühren. Warst Du jemals, ohne dass Dir nur der flüchtigste Gedanke an irgendeinen andern gekommen wäre, einfach über Dich verzweifelt? Verzweifelt um Dich hinzuwerfen und so liegenzubleiben über alle Weltgerichte hinaus? Wie ist Deine Frömmigkeit? Du gehst in den Tempel; aber in der letzten Zeit bist Du wohl nicht hingegangen. Und was hält Dich, der Gedanke an das Judentum oder an Gott? Fühlst Du - was die Hauptsache ist - ununterbrochene Beziehungen zwischen Dir und einer beruhigend fernen, womöglich unendlichen Höhe oder Tiefe? Wer das immer fühlt, der muß nicht wie ein verlorener Hund herumlaufen und bittend aber stumm herumschaun, der muß nicht das Verlangen haben, in das Grab zu schlüpfen, als sei es ein warmer Schlafsack und das Leben eine kalte Winternacht, der muß nicht, wenn er die Treppen in sein Bureau hinaufgeht, zu sehen glauben, dass er gleichzeitig von oben, flimmernd im unsichern Licht, sich drehend in der Eile der Bewegung, kopfschüttelnd vor Ungeduld, durch das ganze Treppenhaus hinunterfällt.

Manchmal, Liebste, glaube ich wirklich, dass ich für den Verkehr mit Menschen verloren bin. Ich habe doch meine Schwester gewiß lieb, ich war auch im Augenblick der Einladung ehrlich froh, dass sie mit mir nach Leitmeritz fahren wollte, ich freute mich, ihr mit der Reise ein Vergnügen zu machen und für sie ordentlich sorgen zu können, denn für, jemanden sorgen zu können, ist mein geheimer, ewiger, vielleicht von niemandem in meiner Umgebung erkannter oder geglaubter Wunsch - aber als ich mich in Leitmeritz nach 3 oder 4 Stunden gemeinsamer Reise, gemeinsamer Wagenfahrt, gemeinsamen Frühstücks von ihr verabschiedete, um zu Gericht zu gehn, war ich glücklich, ich schnappte förmlich nach Luft, im Alleinsein wurde mir behaglich, wie es mir bei meiner Schwester niemals gewesen war. Warum Liebste, warum? Ist Dir etwas nur entfernt Ähnliches mit einem Menschen, den Du liebtest, schon geschehn? Bei durchaus nicht außergewöhnlichen Umständen, denn wir gingen freundlich auseinander und kamen dann nach 6 Stunden freundlich wieder zusammen. Und es war nicht etwas Einmaliges; morgen, übermorgen, wann es sich nur trifft, wiederholt sich das gleiche. - Liebste, zu Deinen Füßen liegen und still sein, das wäre das beste.

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at