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An Felice Bauer
Liebste, es ist spät und ich bin müde. Ich war nachmittags im
Bureau, habe nicht geschlafen, habe dumme Arbeit gemacht Unfallstatistik
(damit Du auch davon den Namen kennst und in jede Kleinigkeit, die ich
habe, Dein Atem dringe zu meiner Lust) und auch die Zeit nachher habe ich
schlecht verbracht. (Du, ich habe die Wangen heiß vor Müdigkeit.)
Ich ging mit ziemlichem Behagen aus dem Bureau spazieren, kam an der Wohnung
von Weltsch vorüber, sah in seinem Zimmer Licht, er war also bei der
Arbeit und ich dachte, es wäre eine passende Gelegenheit, ihn zu stören,
denn ich hatte schon lange nicht mit ihm gesprochen. (Ja, Du weißt
gar nicht, was er ist. Er ist dr. jur. und dr. phil., Beamter der Universitätsbibliothek,
wo er gar nichts zu tun hat und gibt gemeinsam mit Max ein vielleicht noch
diesen Monat erscheinendes philosophisches Buch "Anschauung
und Begriff" heraus.) Ich ging also hinauf, traf ihn wie immer
in einem überheizten von verdorbener Luft erfüllten Zimmer, denn
seine Hypochondrie sitzt in der Lunge und im Kehlkopf, fand ihn glücklich
darüber, beim Lesen eines unheimlich schwierigen Buches von Cohen
- Logik der reinen Erkenntnis, wenn ich nicht irre - gestört worden
zu sein, war aber vorläufig nicht imstande, ihn zu einem Spaziergang
aus dieser kaum atembaren Luft herauszuziehen. Wenn wir nur über allgemeine
Dinge gesprochen hätten, wäre es mir schon bald gelungen, aber
er hat eine solche mir unverständliche Befriedigung davon, mir alte
und neue intime Briefe vorzulesen, wenn sich nur irgendeine Gelegenheit
findet. Und eine solche Gelegenheit war gerade heute da, und so öffnete
er seine Geheimlade, wo alles in Päckchen zusammengebunden in äußerster
Ordnung beisammenliegt. Hier ist alles, was sich über die persönlichsten
Angelegenheit[en] schriftlich erhalten läßt, die Briefe, die
er bekommen hat, stenographierte Koncepte aller Briefe, die er weggeschickt
hat, genaue Daten über alle Entwicklungen, stenographierte Gespräche,
stenographierte Erwägungen über das alles aus alter und ältester
Zeit. Von dem allen hat gewiß außer Max und mir kaum einer
etwas erfahren, denn geschwätzig darfst Du Dir W. nicht denken, er
ist eher das Gegenteil. Aber heute wollte er erzählen, und je unverständlicher
mir die Befriedigung und Behaglichkeit ist, die er sich dadurch verschafft,
desto maßloser ist meine Geduld im Ertragen solchen Vorlesens und
solcher Erzählungen. Und als er auch noch, um mich nur zu halten,
sich dazu überwand, meinetwegen die Tür des kalten Nebenzimmers
zu öffnen, war ich ganz widerstandslos, legte mich im Überzieher
auf das Kanapee und hörte zu. Ich liebe ihn, aber nicht in solchen
Zeiten. - Nicht weiter! Einen müden, nicht nur vor Müdigkeit
unaufhörlichen Kuß.
Franz
Anschauung und Begriff: Felix Weltsch und Max Brod,
Anschauung und Begriff, Leipzig 1913. Der Band erschien noch in
der zweiten Hälfte des Monats Februar 1913 im Kurt Wolf Verlag, Leipzig.
Letzte Änderung: 4.5.2016 werner.haas@univie.ac.at