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An Felice Bauer

vom 6. zum 7.II.13
 


Liebste, es ist spät und ich bin müde. Ich war nachmittags im Bureau, habe nicht geschlafen, habe dumme Arbeit gemacht Unfallstatistik (damit Du auch davon den Namen kennst und in jede Kleinigkeit, die ich habe, Dein Atem dringe zu meiner Lust) und auch die Zeit nachher habe ich schlecht verbracht. (Du, ich habe die Wangen heiß vor Müdigkeit.) Ich ging mit ziemlichem Behagen aus dem Bureau spazieren, kam an der Wohnung von Weltsch vorüber, sah in seinem Zimmer Licht, er war also bei der Arbeit und ich dachte, es wäre eine passende Gelegenheit, ihn zu stören, denn ich hatte schon lange nicht mit ihm gesprochen. (Ja, Du weißt gar nicht, was er ist. Er ist dr. jur. und dr. phil., Beamter der Universitätsbibliothek, wo er gar nichts zu tun hat und gibt gemeinsam mit Max ein vielleicht noch diesen Monat erscheinendes philosophisches Buch "Anschauung und Begriff" heraus.) Ich ging also hinauf, traf ihn wie immer in einem überheizten von verdorbener Luft erfüllten Zimmer, denn seine Hypochondrie sitzt in der Lunge und im Kehlkopf, fand ihn glücklich darüber, beim Lesen eines unheimlich schwierigen Buches von Cohen - Logik der reinen Erkenntnis, wenn ich nicht irre - gestört worden zu sein, war aber vorläufig nicht imstande, ihn zu einem Spaziergang aus dieser kaum atembaren Luft herauszuziehen. Wenn wir nur über allgemeine Dinge gesprochen hätten, wäre es mir schon bald gelungen, aber er hat eine solche mir unverständliche Befriedigung davon, mir alte und neue intime Briefe vorzulesen, wenn sich nur irgendeine Gelegenheit findet. Und eine solche Gelegenheit war gerade heute da, und so öffnete er seine Geheimlade, wo alles in Päckchen zusammengebunden in äußerster Ordnung beisammenliegt. Hier ist alles, was sich über die persönlichsten Angelegenheit[en] schriftlich erhalten läßt, die Briefe, die er bekommen hat, stenographierte Koncepte aller Briefe, die er weggeschickt hat, genaue Daten über alle Entwicklungen, stenographierte Gespräche, stenographierte Erwägungen über das alles aus alter und ältester Zeit. Von dem allen hat gewiß außer Max und mir kaum einer etwas erfahren, denn geschwätzig darfst Du Dir W. nicht denken, er ist eher das Gegenteil. Aber heute wollte er erzählen, und je unverständlicher mir die Befriedigung und Behaglichkeit ist, die er sich dadurch verschafft, desto maßloser ist meine Geduld im Ertragen solchen Vorlesens und solcher Erzählungen. Und als er auch noch, um mich nur zu halten, sich dazu überwand, meinetwegen die Tür des kalten Nebenzimmers zu öffnen, war ich ganz widerstandslos, legte mich im Überzieher auf das Kanapee und hörte zu. Ich liebe ihn, aber nicht in solchen Zeiten. - Nicht weiter! Einen müden, nicht nur vor Müdigkeit unaufhörlichen Kuß.

Franz




Anschauung und Begriff: Felix Weltsch und Max Brod, Anschauung und Begriff, Leipzig 1913. Der Band erschien noch in der zweiten Hälfte des Monats Februar 1913 im Kurt Wolf Verlag, Leipzig.


Letzte Änderung: 4.5.2016werner.haas@univie.ac.at