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An Felice Bauer
Eben setze ich mich seit meinem Nachmittagsbrief zum
erstenmal zum Schreibtisch. Wieviel Uhr ist es? (Ich schreibe die Antwort
auf die nächste Seite, wie man es mit den schrecklichen
Überraschungen der Lieferungsromane macht.) Ich habe den ganzen Nachmittag
mit Werfel, den Abend mit Max verbracht und bin zermartert von Müdigkeit
und Spannungen im Kopf, die sich heute der Scheitelhöhe nähern,
erst nach 8 zum Schlaf gekommen. Natürlich gab es da schon den gewöhnlichen
Unterhaltungslärm im Nebenzimmer, der mich zeitweise, wenn mich meine
Müdigkeit gerade ein wenig in den Schlaf getaucht hatte, desto höher
wieder herausgerissen hat. Immerhin blieb ich in der schönsten Mannigfaltigkeit
von Schlaf, Dusel, Träumerei und zweifellosem Wachsein bis jetzt im
Bett und bin nur aufgestanden, um Dir, Liebste, zu schreiben und mir einiges
für den Roman zu notieren, das mich mit Macht im Bett angefallen hat,
trotzdem ich solche vereinzelte Erleuchtungen künftiger Ereignisse
mehr fürchte als verlange. Das Nachtmahl habe ich ausnahmsweise fehlerlos
(bei seiner Kompliciertheit ist das gar nicht leicht zu machen) auf meinem
Tisch vorgefunden, habe es aber angegessen weggeräumt. Mein Magen
ist, wie mein ganzer Mensch, seit paar Tagen nicht in Ordnung und ich suche
ihm durch Hungern beizukommen. Heute habe ich z. B. bloß zu Mittag
gegessen. Ich erwähne es deshalb, um jede Kleinigkeit, von der ich
einen Erfolg erwarte, in das Licht Deiner Augen zu halten.
Werfel hat mir neue Gedichte vorgelesen, die wieder zweifellos aus einer
ungeheueren Natur herkommen. Wie ein solches Gedicht, den ihm eingeborenen
Schluß in seinem Anfang tragend, sich erhebt, mit einer ununterbrochenen,
innern, strömenden Entwicklung - wie reißt man da, auf dem Kanapee
zusammengekrümmt, die Augen auf! Und der Junge ist schön geworden
und liest mit einer Wildheit (gegen deren Einförmigkeit ich allerdings
Einwände habe)! Er kann alles, was er je geschrieben hat, auswendig
und scheint sich beim Vorlesen zerfetzen zu wollen, so setzt das Feuer
diesen schweren Körper, diese große Brust, die runden Wangen
in Brand. Er wird im Feber in Berlin vorlesen, da mußt Du jedenfalls
hingehn. Natürlich war auch von Dir (wenn auch nicht namentlich) die
Rede, wie verginge für mich ein Nachmittag ohne Dich, Und er hat mir
in den Weltfreund eine kleine Widmung für "eine
Unbekannte" hineingeschrieben, damit sich Frl. Lindner ein wenig ärgert.
Ich schicke Dir das Buch nächstens, wenn mir nur nicht immer die Art
der Verpackung, der Aufgabe u.s.w. solche Sorgen machen würden. Deshalb
ist die "Höhe des Gefühls" [Brod] auch so lange bei
mir gelegen, natürlich gehört das Buch Dir, ich hatte es Dir
doch schon längst versprochen. Ebenso wälzt sich auch schon der
französische für Dich bestimmte Flaubert wochenlang auf meinem
Schreibtisch herum und ich gebe mich Träumereien über die möglichen
Arten der Verpackung und Versendung hin.
Hast Du eigentlich den Brief des Löwy, den ich Dir für Sonntag
schickte, lesen können? Er spielte Sonntag in Berlin, wenigstens glaubte
ich es aus dem Brief herauslesen zu können, und so hatte ich die Hinterlist
begangen, diese Stelle zu unterstreichen. Später habe ich mir deshalb
Vorwürfe gemacht und bin nun froh, dass Du die unterstrichene
Stelle nicht bemerkt hast oder aus sonstigen Gründen nicht in das
Theater gegangen bist. Ich nehme Deine kleine freie Zeit schon genug für
mich in Anspruch, übergenug! Wie mir Werfel, der auch mit Löwy
zusammengekommen ist, erzählte, hat die Truppe dem Leipziger Korrespondenten
des Berliner Tageblatt, einem Dr. Pinthus, den ich übrigens
auch kenne (er ist ein schwerfälliger Mensch und es ist nicht viel
von ihm zu erwarten), so gefallen, dass er in einem Feuilleton
des B. T. über sie schreiben wird. Schicke es mir, bitte, wenn
Du es findest, ich denke an die Schauspieler immer noch sehr gern.
Deine Vorschläge, Liebste, für eine neue Zeiteinteilung - ich
kann sie nicht befolgen. So wie es ist, ist es das einzige Mögliche;
halte ich es nicht aus, desto ärger; aber ich werde es schon aushalten
- Ein bis zwei Stunden zum Schreiben genügen nicht (abgesehen davon,
dass Du für das Schreiben an Dich keine Zeit vorhergesehen hast),
zehn Stunden wären gerade das Richtige, da aber das Richtige nicht
zu erreichen ist, muß man sich ihm wenigstens möglichst annähern
und nicht an Schonung denken - Ich habe sowieso die letzten Tage heillos
schlecht für mein Schreiben ausgenützt, es muß anders werden,
das untergräbt mich, nun habe ich heute wieder gar nichts geschrieben
und war, als ich mich abends ins Bett legte, über meine Müdigkeit
und die kurze Zeit so verzweifelt, dass ich im Halbschlaf betete,
der Bestand der Welt möchte in meine Hände gegeben sein, um ohne
Besinnung an ihm rütteln zu können. Ach Gott! Ach Liebste!
Franz
Nachmittagsbrief :Nicht erhalten.
nächste Seite:Dort durch Einrahmung vom Brieftext
abgetrennt ½1 Uhr nachts
den Weltfreund: Der Weltfreund. Gedichte
von Franz Werfel Berlin [1911]
Dr. Pinthus: Kurt Pinthus, geh. 1886, Publizist
und Kritiker, seinerzeit Lektor des Kurt Wolff Verlags, Herausgeber der
1919 erstmalig erschienenen Anthologie expressionistischer Dichtung Menschheitsdämmerung.
Feuilleton des B. T. : Dieser Artikel, "Jüdisches
Theater", war bereits am 17. Januar 1913 im Leipziger Tageblatt
erschienen.
Letzte Änderung: 4.5.2016 werner.haas@univie.ac.at