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An Felice Bauer

vom 1. zum 2.II.1913
 


Eben setze ich mich seit meinem Nachmittagsbrief zum erstenmal zum Schreibtisch. Wieviel Uhr ist es? (Ich schreibe die Antwort auf die nächste Seite, wie man es mit den schrecklichen Überraschungen der Lieferungsromane macht.) Ich habe den ganzen Nachmittag mit Werfel, den Abend mit Max verbracht und bin zermartert von Müdigkeit und Spannungen im Kopf, die sich heute der Scheitelhöhe nähern, erst nach 8 zum Schlaf gekommen. Natürlich gab es da schon den gewöhnlichen Unterhaltungslärm im Nebenzimmer, der mich zeitweise, wenn mich meine Müdigkeit gerade ein wenig in den Schlaf getaucht hatte, desto höher wieder herausgerissen hat. Immerhin blieb ich in der schönsten Mannigfaltigkeit von Schlaf, Dusel, Träumerei und zweifellosem Wachsein bis jetzt im Bett und bin nur aufgestanden, um Dir, Liebste, zu schreiben und mir einiges für den Roman zu notieren, das mich mit Macht im Bett angefallen hat, trotzdem ich solche vereinzelte Erleuchtungen künftiger Ereignisse mehr fürchte als verlange. Das Nachtmahl habe ich ausnahmsweise fehlerlos (bei seiner Kompliciertheit ist das gar nicht leicht zu machen) auf meinem Tisch vorgefunden, habe es aber angegessen weggeräumt. Mein Magen ist, wie mein ganzer Mensch, seit paar Tagen nicht in Ordnung und ich suche ihm durch Hungern beizukommen. Heute habe ich z. B. bloß zu Mittag gegessen. Ich erwähne es deshalb, um jede Kleinigkeit, von der ich einen Erfolg erwarte, in das Licht Deiner Augen zu halten.

Werfel hat mir neue Gedichte vorgelesen, die wieder zweifellos aus einer ungeheueren Natur herkommen. Wie ein solches Gedicht, den ihm eingeborenen Schluß in seinem Anfang tragend, sich erhebt, mit einer ununterbrochenen, innern, strömenden Entwicklung - wie reißt man da, auf dem Kanapee zusammengekrümmt, die Augen auf! Und der Junge ist schön geworden und liest mit einer Wildheit (gegen deren Einförmigkeit ich allerdings Einwände habe)! Er kann alles, was er je geschrieben hat, auswendig und scheint sich beim Vorlesen zerfetzen zu wollen, so setzt das Feuer diesen schweren Körper, diese große Brust, die runden Wangen in Brand. Er wird im Feber in Berlin vorlesen, da mußt Du jedenfalls hingehn. Natürlich war auch von Dir (wenn auch nicht namentlich) die Rede, wie verginge für mich ein Nachmittag ohne Dich, Und er hat mir in den Weltfreund eine kleine Widmung für "eine Unbekannte" hineingeschrieben, damit sich Frl. Lindner ein wenig ärgert. Ich schicke Dir das Buch nächstens, wenn mir nur nicht immer die Art der Verpackung, der Aufgabe u.s.w. solche Sorgen machen würden. Deshalb ist die "Höhe des Gefühls" [Brod] auch so lange bei mir gelegen, natürlich gehört das Buch Dir, ich hatte es Dir doch schon längst versprochen. Ebenso wälzt sich auch schon der französische für Dich bestimmte Flaubert wochenlang auf meinem Schreibtisch herum und ich gebe mich Träumereien über die möglichen Arten der Verpackung und Versendung hin.

Hast Du eigentlich den Brief des Löwy, den ich Dir für Sonntag schickte, lesen können? Er spielte Sonntag in Berlin, wenigstens glaubte ich es aus dem Brief herauslesen zu können, und so hatte ich die Hinterlist begangen, diese Stelle zu unterstreichen. Später habe ich mir deshalb Vorwürfe gemacht und bin nun froh, dass Du die unterstrichene Stelle nicht bemerkt hast oder aus sonstigen Gründen nicht in das Theater gegangen bist. Ich nehme Deine kleine freie Zeit schon genug für mich in Anspruch, übergenug! Wie mir Werfel, der auch mit Löwy zusammengekommen ist, erzählte, hat die Truppe dem Leipziger Korrespondenten des Berliner Tageblatt, einem Dr. Pinthus, den ich übrigens auch kenne (er ist ein schwerfälliger Mensch und es ist nicht viel von ihm zu erwarten), so gefallen, dass er in einem Feuilleton des B. T. über sie schreiben wird. Schicke es mir, bitte, wenn Du es findest, ich denke an die Schauspieler immer noch sehr gern.

Deine Vorschläge, Liebste, für eine neue Zeiteinteilung - ich kann sie nicht befolgen. So wie es ist, ist es das einzige Mögliche; halte ich es nicht aus, desto ärger; aber ich werde es schon aushalten - Ein bis zwei Stunden zum Schreiben genügen nicht (abgesehen davon, dass Du für das Schreiben an Dich keine Zeit vorhergesehen hast), zehn Stunden wären gerade das Richtige, da aber das Richtige nicht zu erreichen ist, muß man sich ihm wenigstens möglichst annähern und nicht an Schonung denken - Ich habe sowieso die letzten Tage heillos schlecht für mein Schreiben ausgenützt, es muß anders werden, das untergräbt mich, nun habe ich heute wieder gar nichts geschrieben und war, als ich mich abends ins Bett legte, über meine Müdigkeit und die kurze Zeit so verzweifelt, dass ich im Halbschlaf betete, der Bestand der Welt möchte in meine Hände gegeben sein, um ohne Besinnung an ihm rütteln zu können. Ach Gott! Ach Liebste!

Franz




Nachmittagsbrief :Nicht erhalten.


nächste Seite:Dort durch Einrahmung vom Brieftext abgetrennt ½1 Uhr nachts


den Weltfreund: Der Weltfreund. Gedichte von Franz Werfel Berlin [1911]


Dr. Pinthus: Kurt Pinthus, geh. 1886, Publizist und Kritiker, seinerzeit Lektor des Kurt Wolff Verlags, Herausgeber der 1919 erstmalig erschienenen Anthologie expressionistischer Dichtung Menschheitsdämmerung.


Feuilleton des B. T. : Dieser Artikel, "Jüdisches Theater", war bereits am 17. Januar 1913 im Leipziger Tageblatt erschienen.


Letzte Änderung: 4.5.2016werner.haas@univie.ac.at