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An Felice Bauer

7.1.13
 


Meine liebste Felice, ich schreibe heute nachmittag, denn ich weiß nicht, ob ich abend überhaupt aus dem Bett komme. Vielleicht ist es das beste, ich schlafe durch. Ich bin offenbar verkühlt, und zwar durch und durch; ich kann es nicht glauben und bin es doch. Und wenn ich nicht verkühlt sein sollte, ist es doch etwas verteufelt Ähnliches. Ich werde heiße Limonade trinken, ein heißes Tuch um mich schlagen, mich von der Welt zurückziehn und von Felice träumen. Alle Verkühlungen und alle Gespenster sollen aus mir und meinem Zimmer durch Hitze vertrieben werden, damit ein reiner Aufenthalt für die Gedanken an Dich, mein liebstes Kind, bereitet werde.

Gegen die Post soll ich nichts mehr sagen? Höre doch, Deinen Sonntagabendbrief habe ich Montag vormittag bekommen, Deinen Sonntagvormittagbrief dagegen erst heute, Dienstag, vormittag. (Ins Bureau kommen die Briefe pünktlicher, unsere Wohnung ist so entlegen.) Es kann nur Deiner Bildchen halber gewesen sein, die sie mir auf der Post nicht gönnten. Liebste, was für ein schönes Bild! Vielleicht nicht in den Einzelheiten, aber im Blick, im Lächeln und in der Haltung! Irgendetwas Unnützes bohrt in meinem Kopf, aber es macht für einen Augenblick halt, wenn ich Dein Bild ansehe. Nun sehe ich Dich also beiläufig so, wie ich Dich damals zum erstenmal sah. Diese Handhaltung hatte ich gar nicht mehr im Gedächtnis, aber jetzt ersteht sie mir, glaube ich, in der Erinnerung wieder auf. Die Freundlichkeit Deines Blickes gilt ja der Welt im allgemeinen (wie ja auch meine starren Augen der Welt im allgemeinen gelten), aber ich nehme sie für mich und bin glücklich.

Bitte, Liebste, wegen meiner Verkühlung mache Dir aber auch keinen einzigen Gedanken. Ich erwähne sie überhaupt nur, weil ich Dir gerne jede Kleinigkeit sagen möchte, wie es sich eben von selbst ergibt, wenn das Gesicht dem andern so nahe ist, wie es in Wirklichkeit sein sollte und nur in Träumen manchmal ist. Eine kleine, rasch vorübergehende Krankheit ist mir überhaupt noch von meiner Kinderzeit her eine immer erstrebte, selten erreichte Annehmlichkeit gewesen. Es unterbricht den unerbittlichen Zeitverlauf und verhilft diesem abgenutzten, regelrecht fortgeschleiften Menschen, der man ist, zu einer kleinen Wiedergeburt, nach der es mich jetzt wirklich schon gelüstet. Und wenn es nur deshalb wäre, damit Du, Felice, einen liebenswerteren Briefschreiber bekommst, der endlich einsehen lernt, dass Du zu kostbar bist, um immerfort mit Klagen an Dir zu zerren.


Franz


[Am Rande Früh ¾8. Die Kur ist vorüber, es geht ins Bureau.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at