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An Felice Bauer

vom 5. zum 6.1. 1913
 


Arme, arme Liebste, möchtest Du Dich doch nie gezwungen fühlen, diesen elenden Roman zu lesen, den ich da stumpf zusammenschreibe. Schrecklich ist es, wie er sein Aussehn ändern kann; liegt die Last auf (mit welchem Schwung ich schreibe! Wie die Kleckse fliegen!) dem Wagen oben, dann ist mir wohl, ich entzücke mich am Peitschenknallen und bin ein großer Herr; fällt sie mir aber vom Wagen herunter (und das ist nicht vorauszusehn, nicht zu verhindern, nicht zu verschweigen) wie gestern und heute, scheint sie unmäßig schwer für meine kläglichen Schultern, dann möchte ich am liebsten alles lassen und mir an Ort und Stelle ein Grab graben. Schließlich kann es keinen schönern, der vollkommenen Verzweiflung würdigern Ort für das Sterben geben als einen eigenen Roman. Gerade unterhalten sich zwei seit gestern recht matt gewordene Personen auf zwei benachbarten Balkonen im 8ten Stockwerk um 3 Uhr in der Nacht [1]. Wie wäre es, wenn ich ihnen von der Gasse aus ein "Adieu" zuriefe und sie gänzlich verließe. Sie würden dort auf ihren Balkonen zusammensinken und mit Leichengesichtern durch die Geländerstangen einander ansehn. Aber ich drohe nur, Liebste, ich tue es ja doch nicht. Wenn - kein Wenn, ich verirre mich wieder einmal.

Heute habe ich wirklich nachmittag zu schlafen versucht, es ist aber nicht ganz gut ausgefallen, denn nebenan - ich hatte es nicht vorbedacht - wurden die 6-700 Einladungen für die nächsten Sonntag stattfindende Hochzeit meiner Schwester bereitgemacht und mein künftiger Schwager, der diese Arbeit befehligte, hat neben allen seinen sonstigen sehr liebenswürdigen Eigenschaften eine so schreiende und so gern benützte Stimme, dass einer, der im Nebenzimmer zu schlafen versucht, beim Klang dieser Stimme das Gefühl bekommt, es werde ihm eine Säge an den Hals gesetzt. Dabei läßt sich natürlich nicht sehr gut schlafen; es war ein ewiges Aufschrecken und In-den-Schlaf-Zurückfallen. Dabei hatte ich auf einen schönen Spaziergang verzichtet, um schlafen zu können. Aber geschlafen hatte ich schließlich doch genug und eine Entschuldigung für mein schlechtes Schreiben kann ich daraus nicht ableiten.

Wie war es, Liebste, mit den Bemerkungen Deiner Eltern über mich? Da will ich aber jedes Wort und jede Miene wissen. Geh, solche Dinge verschweigst Du mir so lange. Wenn ich solche Bemerkungen erfahre, habe ich dann ein solches Gefühl Deiner Nähe, es ist, ob glücklich oder traurig, so stark und für mich, den von Deiner leiblichen Nähe so vollkommen ausgeschlossenen, so begehrenswert, dass ich, in diesen Genuß versunken, solche Mitteilungen lange Zeit anstarren kann, ohne zu lesen, ohne zu denken, ohne etwas anderes zu fühlen als Dich. Ich bin dann ganz an Deiner Seite, werde mit Dir von Deinen Eltern angesprochen und bin in den Blutkreis einbezogen, aus dem Du stammst. Stärkere Nähe gibt es vielleicht gar nicht, das nächst Höhere wäre schon Durchdringung.

Auch mit diesem "recht nett aussehenden" Kinderarzt sind wir, Felice, noch nicht fertig. An dem halte ich mich noch ein Weilchen fest, er ist ein kleines Gegenstück zu der Frankfurter Geschichte und eigentlich im Grunde, wenn auch unbeabsichtigt, eine an mich gestellte Frage. Die muß ich beantworten. Wenn ich, Liebste, nur eifersüchtig, nichts anderes als eifersüchtig wäre, könnte ich nach Deiner Erzählung noch eifersüchtiger werden. Denn wenn dieser Kinderarzt eine so wichtige Angelegenheit war, dass Du eine Unwahrheit sagen mußtest, um Dich vor ihm zu schützen, dann - Aber Liebste, das ist der Gedankengang eines Eifersüchtigen, nicht der meine, wenn er mir auch immerhin zugänglich ist. Mein Gedankengang ist der: Du hattest Dich mit dem Arzt gut unterhalten, einen angenehmen Abend mit ihm verbracht, er suchte eine Anknüpfung, die an und für sich, wenigstens bis zur Grenze einer kleinen Vormittagsunterhaltung, weder Dir noch Deiner Mutter unangenehm gewesen wäre, es scheint, dass infolge des Ablehnens jener Anknüpfung eine weitere Anknüpfung ausgeschlossen oder wenigstens unwahrscheinlich ist und daran trage ich, nach Deiner Erzählung, Felice, allein die Schuld, allerdings die mir vollständig gebührende Schuld. Wie trage ich nun diese Schuld? Etwa stolz, oder zufrieden? oder zur Aufladung weiterer Schuld verlockend? Nein, ich klage, ich jammere eigentlich, ich hätte wollen, dass der Kinderarzt zu Euch hinaufgekommen wäre, dass er sich als der nette Mensch, der er am Sylvester war, auch weiterhin bewährt hätte, dass er lustig gewesen und lustig aufgenommen worden wäre. Wer bin denn ich, dass ich mich ihm in den Weg zu legen wage? Ein Schatten, der Dich unendlich liebt, den man aber nicht ans Licht ziehen kann. Pfui über mich! - Jetzt ist natürlich wieder Zeit, den Wirbel sich in entgegengesetzter Richtung drehn zu lassen. Ich wäre zerfressen von Eifersucht, wenn ich aus der Ferne hören müßte, dass dem Kinderarzt tatsächlich alles das gelungen ist, was ich ihm auf der vorigen Seite so dringend wünschte, und die Unwahrheit, die Du ihm sagtest, war nicht aus Deinem reinen Innern, sondern aus mir heraus gesprochen, und ich will fast glauben, dass Deine Stimme in jenem Augenblick einen kleinen Beiklang von der meinigen gehabt hat. - Wie schließt sich aber diese Meinung mit der vorigen zusammen? (So wird aus meiner Antwort nur wieder eine an Dich gestellte Frage.) Nur als Wirbel. Und aus diesem Wirbel sollte ich herausgezogen werden können? Das kann ich gar nicht glauben.

Übrigens weiß ich schon aus meiner Naturheilkunde, dass alle Gefahr von der Medicin herkommt, ganz gleichgültig, ob es sich diesmal um einen Augenarzt, oder dann um einen Zahnarzt und endlich um einen Kinderarzt handelt. Die dumme Feder! Was für Dummheiten sie sich niederzuschreiben nicht scheut, statt einmal etwas Vernünftiges zu schreiben, wie "Du Liebste!" und dann noch einmal "Du Liebste!" und dann wieder "Du Liebste!" und nichts als das.

Mein Denken an Dich ist vernünftiger als mein Schreiben an Dich. Gestern nachts konnte und wollte ich lange nicht einschlafen, und zwei Stunden lag ich da mehr wachend als schlafend und war unaufhörlich im vertrautesten Gespräch mit Dir. Es wurde nichts einzelnes gesprochen und mitgeteilt, es war eigentlich nur die Form eines vertrauten Gesprächs, das Gefühl der Nähe und Hingabe.


Franz




[1] Vgl. den Amerika-Roman, S. 293ff.


Letzte Änderung: 22.8.2021werner.haas@univie.ac.at