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An Felice Bauer
Arme, arme Liebste, möchtest Du Dich doch nie gezwungen fühlen,
diesen elenden Roman zu lesen, den ich da stumpf zusammenschreibe. Schrecklich
ist es, wie er sein Aussehn ändern kann; liegt die Last auf (mit welchem
Schwung ich schreibe! Wie die Kleckse fliegen!) dem Wagen oben, dann ist
mir wohl, ich entzücke mich am Peitschenknallen und bin ein großer
Herr; fällt sie mir aber vom Wagen herunter (und das ist nicht vorauszusehn,
nicht zu verhindern, nicht zu verschweigen) wie gestern und heute, scheint
sie unmäßig schwer für meine kläglichen Schultern,
dann möchte ich am liebsten alles lassen und mir an Ort und Stelle
ein Grab graben. Schließlich kann es keinen schönern, der vollkommenen
Verzweiflung würdigern Ort für das Sterben geben als einen eigenen
Roman. Gerade unterhalten sich zwei seit gestern recht matt gewordene Personen
auf zwei benachbarten Balkonen im 8ten Stockwerk um 3 Uhr in der Nacht
[1]. Wie wäre es, wenn ich ihnen von der Gasse aus
ein "Adieu" zuriefe und sie gänzlich verließe. Sie
würden dort auf ihren Balkonen zusammensinken und mit Leichengesichtern
durch die Geländerstangen einander ansehn. Aber ich drohe nur, Liebste,
ich tue es ja doch nicht. Wenn - kein Wenn, ich verirre mich wieder einmal.
Heute habe ich wirklich nachmittag zu schlafen versucht, es ist aber nicht
ganz gut ausgefallen, denn nebenan - ich hatte es nicht vorbedacht - wurden
die 6-700 Einladungen für die nächsten Sonntag stattfindende
Hochzeit meiner Schwester bereitgemacht und mein künftiger Schwager,
der diese Arbeit befehligte, hat neben allen seinen sonstigen sehr liebenswürdigen
Eigenschaften eine so schreiende und so gern benützte Stimme, dass
einer, der im Nebenzimmer zu schlafen versucht, beim Klang dieser Stimme
das Gefühl bekommt, es werde ihm eine Säge an den Hals gesetzt.
Dabei läßt sich natürlich nicht sehr gut schlafen; es war
ein ewiges Aufschrecken und In-den-Schlaf-Zurückfallen. Dabei hatte
ich auf einen schönen Spaziergang verzichtet, um schlafen zu können.
Aber geschlafen hatte ich schließlich doch genug und eine Entschuldigung
für mein schlechtes Schreiben kann ich daraus nicht ableiten.
Wie war es, Liebste, mit den Bemerkungen Deiner Eltern über mich?
Da will ich aber jedes Wort und jede Miene wissen. Geh, solche Dinge verschweigst
Du mir so lange. Wenn ich solche Bemerkungen erfahre, habe ich dann ein
solches Gefühl Deiner Nähe, es ist, ob glücklich oder traurig,
so stark und für mich, den von Deiner leiblichen Nähe so vollkommen
ausgeschlossenen, so begehrenswert, dass ich, in diesen Genuß
versunken, solche Mitteilungen lange Zeit anstarren kann, ohne zu lesen,
ohne zu denken, ohne etwas anderes zu fühlen als Dich. Ich bin dann
ganz an Deiner Seite, werde mit Dir von Deinen Eltern angesprochen und
bin in den Blutkreis einbezogen, aus dem Du stammst. Stärkere Nähe
gibt es vielleicht gar nicht, das nächst Höhere wäre schon
Durchdringung.
Auch mit diesem "recht nett aussehenden" Kinderarzt sind wir,
Felice, noch nicht fertig. An dem halte ich mich noch ein Weilchen fest,
er ist ein kleines Gegenstück zu der Frankfurter Geschichte und eigentlich
im Grunde, wenn auch unbeabsichtigt, eine an mich gestellte Frage. Die
muß ich beantworten. Wenn ich, Liebste, nur eifersüchtig, nichts
anderes als eifersüchtig wäre, könnte ich nach Deiner Erzählung
noch eifersüchtiger werden. Denn wenn dieser Kinderarzt eine so wichtige
Angelegenheit war, dass Du eine Unwahrheit sagen mußtest, um
Dich vor ihm zu schützen, dann - Aber Liebste, das ist der Gedankengang
eines Eifersüchtigen, nicht der meine, wenn er mir auch immerhin zugänglich
ist. Mein Gedankengang ist der: Du hattest Dich mit dem Arzt gut unterhalten,
einen angenehmen Abend mit ihm verbracht, er suchte eine Anknüpfung,
die an und für sich, wenigstens bis zur Grenze einer kleinen Vormittagsunterhaltung,
weder Dir noch Deiner Mutter unangenehm gewesen wäre, es scheint,
dass infolge des Ablehnens jener Anknüpfung eine weitere Anknüpfung
ausgeschlossen oder wenigstens unwahrscheinlich ist und daran trage ich,
nach Deiner Erzählung, Felice, allein die Schuld, allerdings die mir
vollständig gebührende Schuld. Wie trage ich nun diese Schuld?
Etwa stolz, oder zufrieden? oder zur Aufladung weiterer Schuld verlockend?
Nein, ich klage, ich jammere eigentlich, ich hätte wollen, dass
der Kinderarzt zu Euch hinaufgekommen wäre, dass er sich als
der nette Mensch, der er am Sylvester war, auch weiterhin bewährt
hätte, dass er lustig gewesen und lustig aufgenommen worden wäre.
Wer bin denn ich, dass ich mich ihm in den Weg zu legen wage? Ein
Schatten, der Dich unendlich liebt, den man aber nicht ans Licht ziehen
kann. Pfui über mich! - Jetzt ist natürlich wieder Zeit, den
Wirbel sich in entgegengesetzter Richtung drehn zu lassen. Ich wäre
zerfressen von Eifersucht, wenn ich aus der Ferne hören müßte,
dass dem Kinderarzt tatsächlich alles das gelungen ist, was ich
ihm auf der vorigen Seite so dringend wünschte, und die Unwahrheit,
die Du ihm sagtest, war nicht aus Deinem reinen Innern, sondern aus mir
heraus gesprochen, und ich will fast glauben, dass Deine Stimme in
jenem Augenblick einen kleinen Beiklang von der meinigen gehabt hat. - Wie
schließt sich aber diese Meinung mit der vorigen zusammen? (So wird
aus meiner Antwort nur wieder eine an Dich gestellte Frage.) Nur als Wirbel.
Und aus diesem Wirbel sollte ich herausgezogen werden können? Das
kann ich gar nicht glauben.
Übrigens weiß ich schon aus meiner Naturheilkunde, dass
alle Gefahr von der Medicin herkommt, ganz gleichgültig, ob es sich
diesmal um einen Augenarzt, oder dann um einen Zahnarzt und endlich um
einen Kinderarzt handelt. Die dumme Feder! Was für Dummheiten sie
sich niederzuschreiben nicht scheut, statt einmal etwas Vernünftiges
zu schreiben, wie "Du Liebste!" und dann noch einmal "Du
Liebste!" und dann wieder "Du Liebste!" und nichts als
das.
Mein Denken an Dich ist vernünftiger als mein Schreiben an Dich. Gestern
nachts konnte und wollte ich lange nicht einschlafen, und zwei Stunden
lag ich da mehr wachend als schlafend und war unaufhörlich im vertrautesten
Gespräch mit Dir. Es wurde nichts einzelnes gesprochen und mitgeteilt,
es war eigentlich nur die Form eines vertrauten Gesprächs, das Gefühl
der Nähe und Hingabe.
Franz
[1] Vgl. den Amerika-Roman, S. 293ff.
Letzte Änderung: 22.8.2021 werner.haas@univie.ac.at