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An Felice Bauer

vom 31.XII.12 zum 1.1.1913
 


Als ich heute abend um 8 Uhr noch im Bette lag, nicht müde, nicht frisch, aber unfähig aufzustehn, bedrückt von diesem allgemeinen Sylvesterfest, das ringsherum anfing, als ich so traurig dalag, verlassen wie ein Hund und gerade die zwei Möglichkeiten, die ich hatte, mit guten Bekannten den Abend zu verbringen (gerade der Mitternachtschuß, Schreien auf der Gasse und der Brücke, wo ich eigentlich keinen Menschen sehe, Glockenläuten und Uhrenschlagen), mich noch trostloser und vergrabener machten und die eigentliche Aufgabe meines Blickes das Herumwandern auf der Zimmerdecke schien, - dachte ich daran, wie froh ich sein muß, dass es das Unglück will, dass ich nicht bei Dir bin. Ich müßte das Glück Deines Anblickes, das Glück des ersten Gespräches, das Glück, mein Gesicht in Deinem Schoß zu verstecken - ich müßte alles dies zu teuer bezahlen, ich müßte es damit bezahlen, dass Du vor mir wegliefest, gewiß weinend wegliefest, denn Du bist die Güte, was aber würden mir die Tränen helfen. Und dürfte ich Dir nachlaufen? Dürfte gerade ich das tun, der Dir ergeben ist wie keiner? (Wie sie auf der Straße brüllen in dieser von den Hauptstraßen weit entfernten Gegend!) Aber alles das muß ich ja nicht selbst beantworten, antworte, Liebste, Du selbst, und zwar nach ganz genauer, keinen Zweifel übriglassender Überlegung. Ich fange mit den kleinsten, unbedeutendsten Fragen an, ich werde sie mit der Zeit steigern.

Nehmen wir an, durch einen besondern Glücksfall wäre es möglich, dass wir in der gleichen Stadt, vielleicht in Frankfurt, einige Tage lang beisammen sind. Wir haben verabredet, am zweiten Abend zusammen ins Theater zu gehn, ich soll Dich aus der Ausstellung abholen. Du hast wichtige Angelegenheiten flüchtig und mit größter Anstrengung erledigt, um nur rechtzeitig fertig zu werden und wartest nun auf mich. Du wartest umsonst, ich komme nicht, an eine bloße zufällige Verspätung ist nicht mehr zu denken, die dafür von dem freundlichsten Menschen zugestandene Frist ist längst vorüber. Auch eine Nachricht, die Dich aufklären könnte, kommt nicht; Du hättest inzwischen Deine geschäftlichen Sachen längst auf das gründlichste erledigt haben können, ruhig Dich anziehn können, für das Theater wird es nun überhaupt zu spät. Eine bloße Versäumnis meinerseits kannst Du gar nicht annehmen, Du hast vielleicht ein wenig Sorge, es könnte mir etwas geschehen sein, und kurz entschlossen - ich höre Dich dem Kutscher den Auftrag geben - fährst Du in mein Hotel und läßt Dich in mein Zimmer führen. Was findest Du da? Ich liege (nun schreibe ich die erste Briefseite ab) um 8 Uhr noch im Bett, nicht müde, nicht frisch, behaupte unfähig gewesen zu sein, das Bett zu verlassen, klage über alles und lasse noch ärgere Klagen ahnen, suche durch Streicheln

Deiner Hand, durch Suchen Deiner im dunklen Zimmer herumirrenden Augen meinen schrecklichen Fehler wieder gutzumachen und zeige doch durch mein ganzes Benehmen, dass ich bereit bin, ihn im Augenblick in seinem ganzen Umfang ohne weiteres zu wiederholen. Dabei finde ich gar nicht besonders viele Worte. Dafür ist mir aber unsere Gegenüberstellung bis ins einzelnste klar, und ich würde an Deiner Stelle vor meinem Bett nicht zögern, vor Ärger und Verzweiflung den Schirm zu erheben und an mir zu zerschlagen.

Vergesse nicht, Liebste, das Ereignis, das ich da beschrieben habe, ist in Wirklichkeit vollständig unmöglich. In Frankfurt z. B. würde ich, wenn man meinen ununterbrochenen Aufenthalt in den Ausstellungsräumen nicht gestatten wollte, den ganzen Tag eben vor der Tür der Ausstellung hocken und ähnlich würde ich mich wahrscheinlich bei gemeinsamen Theaterbesuchen verhalten, also vielmehr zudringlich als nachlässig. Aber ich will eine überdeutliche Antwort auf meine Frage, eine Antwort, die von allen Seiten, also auch von der Seite der Wirklichkeit unabhängig ist, und darum habe ich auch meine Frage so überdeutlich gestellt. Antworte also, liebste Schülerin, antworte dem Lehrer, der manchmal in der Grenzenlosigkeit seiner Liebe und seines Unglücks gänzlich bis zur Unwirklichkeit vergehen möchte.

In Deinem letzten Brief steht ein Satz, Du schriebst ihn schon einmal, ich wohl auch: "Wir gehören unbedingt zusammen." Das ist, Liebste, tausendfach wahr, ich hätte z. B. jetzt in den ersten Stunden des neuen Jahres keinen größern und keinen närrischeren Wunsch, als dass wir an den Handgelenken Deiner linken und meiner rechten Hand unlösbar zusammengebunden wären. Ich weiß nicht recht, warum mir das einfällt, vielleicht weil vor mir ein Buch über die Französische Revolution mit Berichten von Zeitgenossen steht und weil es immerhin möglich ist - ohne dass ich es allerdings irgendwo gelesen oder gehört hätte -, dass einmal auf solche Weise zusammengebunden ein Paar zum Schafott geführt wurde. - Aber was lauft mir denn da alles durch den Kopf, der übrigens heute gegen meinen armen Roman ganz und gar verschlossen war. Das macht die 13 in in der neuen Jahreszahl. Aber die schönste 13 soll mich nicht hindern, Dich, meine Liebste, näher, näher, näher zu mir [zu] ziehn. Wo bist Du denn jetzt? Aus welcher Gesellschaft hebe ich Dich heraus?

Franz


Letzte Änderung: 4.5.2016werner.haas@univie.ac.at