Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
An Felice Bauer
Als ich heute abend um 8 Uhr noch im Bette lag, nicht müde, nicht
frisch, aber unfähig aufzustehn, bedrückt von diesem allgemeinen
Sylvesterfest, das ringsherum anfing, als ich so traurig dalag, verlassen
wie ein Hund und gerade die zwei Möglichkeiten, die ich hatte, mit
guten Bekannten den Abend zu verbringen (gerade der Mitternachtschuß,
Schreien auf der Gasse und der Brücke, wo ich eigentlich keinen Menschen
sehe, Glockenläuten und Uhrenschlagen), mich noch trostloser und vergrabener
machten und die eigentliche Aufgabe meines Blickes das Herumwandern auf
der Zimmerdecke schien, - dachte ich daran, wie froh ich sein muß,
dass es das Unglück will, dass ich nicht bei Dir bin. Ich
müßte das Glück Deines Anblickes, das Glück des ersten
Gespräches, das Glück, mein Gesicht in Deinem Schoß zu
verstecken - ich müßte alles dies zu teuer bezahlen, ich müßte
es damit bezahlen, dass Du vor mir wegliefest, gewiß weinend
wegliefest, denn Du bist die Güte, was aber würden mir die Tränen
helfen. Und dürfte ich Dir nachlaufen? Dürfte gerade ich das
tun, der Dir ergeben ist wie keiner? (Wie sie auf der Straße brüllen
in dieser von den Hauptstraßen weit entfernten Gegend!) Aber alles
das muß ich ja nicht selbst beantworten, antworte, Liebste, Du selbst,
und zwar nach ganz genauer, keinen Zweifel übriglassender Überlegung.
Ich fange mit den kleinsten, unbedeutendsten Fragen an, ich werde sie mit
der Zeit steigern.
Nehmen wir an, durch einen besondern Glücksfall wäre es möglich,
dass wir in der gleichen Stadt, vielleicht in Frankfurt, einige Tage
lang beisammen sind. Wir haben verabredet, am zweiten Abend zusammen ins
Theater zu gehn, ich soll Dich aus der Ausstellung abholen. Du hast wichtige
Angelegenheiten flüchtig und mit größter Anstrengung erledigt,
um nur rechtzeitig fertig zu werden und wartest nun auf mich. Du wartest
umsonst, ich komme nicht, an eine bloße zufällige Verspätung
ist nicht mehr zu denken, die dafür von dem freundlichsten Menschen
zugestandene Frist ist längst vorüber. Auch eine Nachricht, die
Dich aufklären könnte, kommt nicht; Du hättest inzwischen
Deine geschäftlichen Sachen längst auf das gründlichste
erledigt haben können, ruhig Dich anziehn können, für das
Theater wird es nun überhaupt zu spät. Eine bloße Versäumnis
meinerseits kannst Du gar nicht annehmen, Du hast vielleicht ein wenig
Sorge, es könnte mir etwas geschehen sein, und kurz entschlossen -
ich höre Dich dem Kutscher den Auftrag geben - fährst Du in mein
Hotel und läßt Dich in mein Zimmer führen. Was findest
Du da? Ich liege (nun schreibe ich die erste Briefseite ab) um 8 Uhr noch
im Bett, nicht müde, nicht frisch, behaupte unfähig gewesen zu
sein, das Bett zu verlassen, klage über alles und lasse noch ärgere
Klagen ahnen, suche durch Streicheln
Deiner Hand, durch Suchen Deiner im dunklen Zimmer herumirrenden Augen
meinen schrecklichen Fehler wieder gutzumachen und zeige doch durch mein
ganzes Benehmen, dass ich bereit bin, ihn im Augenblick in seinem
ganzen Umfang ohne weiteres zu wiederholen. Dabei finde ich gar nicht besonders
viele Worte. Dafür ist mir aber unsere Gegenüberstellung bis
ins einzelnste klar, und ich würde an Deiner Stelle vor meinem Bett
nicht zögern, vor Ärger und Verzweiflung den Schirm zu erheben
und an mir zu zerschlagen.
Vergesse nicht, Liebste, das Ereignis, das ich da beschrieben habe, ist
in Wirklichkeit vollständig unmöglich. In Frankfurt z. B. würde
ich, wenn man meinen ununterbrochenen Aufenthalt in den Ausstellungsräumen
nicht gestatten wollte, den ganzen Tag eben vor der Tür der Ausstellung
hocken und ähnlich würde ich mich wahrscheinlich bei gemeinsamen
Theaterbesuchen verhalten, also vielmehr zudringlich als nachlässig.
Aber ich will eine überdeutliche Antwort auf meine Frage, eine Antwort,
die von allen Seiten, also auch von der Seite der Wirklichkeit unabhängig
ist, und darum habe ich auch meine Frage so überdeutlich gestellt.
Antworte also, liebste Schülerin, antworte dem Lehrer, der manchmal
in der Grenzenlosigkeit seiner Liebe und seines Unglücks gänzlich
bis zur Unwirklichkeit vergehen möchte.
In Deinem letzten Brief steht ein Satz, Du schriebst ihn schon einmal,
ich wohl auch: "Wir gehören unbedingt zusammen." Das ist,
Liebste, tausendfach wahr, ich hätte z. B. jetzt in den ersten Stunden
des neuen Jahres keinen größern und keinen närrischeren
Wunsch, als dass wir an den Handgelenken Deiner linken und meiner
rechten Hand unlösbar zusammengebunden wären. Ich weiß
nicht recht, warum mir das einfällt, vielleicht weil vor mir ein Buch
über die Französische Revolution mit Berichten von Zeitgenossen
steht und weil es immerhin möglich ist - ohne dass ich es allerdings
irgendwo gelesen oder gehört hätte -, dass einmal auf solche
Weise zusammengebunden ein Paar zum Schafott geführt wurde. - Aber
was lauft mir denn da alles durch den Kopf, der übrigens heute gegen
meinen armen Roman ganz und gar verschlossen war. Das macht die 13 in in
der neuen Jahreszahl. Aber die schönste 13 soll mich nicht hindern,
Dich, meine Liebste, näher, näher, näher zu mir [zu] ziehn.
Wo bist Du denn jetzt? Aus welcher Gesellschaft hebe ich Dich heraus?
Franz
Letzte Änderung: 4.5.2016 werner.haas@univie.ac.at