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[Stempel: Prag, 3.4.13]

[An.] Herrn Dr. Max Brod k.k. Postkoncipist Prag k.k. Postdirektion

Abs. Dr. F. Kafka Prag Pořič

3.IV 13
 

Liebster Max !

Wenn es nicht gar zu dumm aussehn würde ohne genügende Erklärung - und wie brächte ich dafür eine genügende Erklärung in Wob zusammen! - einfach zu sagen, dass ich, so wie ich bin, am besten tue, mich nirgends sehen zu lassen, - so wäre das die richtigste Antwort. Sonst hielt ich mich, wenn es schon nirgends sonst gieng, wenigstens am Bureau fest, heute dagegen wußte ich, wenn ich nur meiner Lust folgen würde, und viele Hemmungen gibt es nicht, nichts besseres, als meinem Direktor mich zu Füßen zu werfen und ihn zu bitten, mich aus Menschlichkeit (andere Gründe sehe ich nicht, die Außenwelt sieht heute noch glücklicher Weise fast nur andere) nicht hinauszuwerfen. Vorstellungen wie z. B. die, dass ich ausgestreckt auf dem Boden liege, wie ein Braten zerschnitten bin und ein solches Fleischstück langsam mit der Hand einem Hund in die Ecke zuschiebe - solche Vorstellungen sind die tägliche Nahrung meines Kopfes. Gestern habe ich nach Berlin das große Geständnis geschrieben, sie ist eine wirkliche Märtyrerin und ich untergrabe ganz deutlich den Boden, auf dem sie früher glücklich und in Übereinstimmung mit der ganzen Welt gelebt hat.

Ich würde heute kommen, liebster Max, nur habe ich heute einen wichtigen Weg. Ich gehe nach Nusle und werde versuchen, bei einem der Gemüsegärtner auf der Nusler Lehne für Nachmittagsarbeit aufgenommen zu werden. Also morgen komme ich, Max.

Franz        



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


das große Geständnis: Kafka bezieht sich auf seinen Brief an Felice Bauer vom 1. April 1913 (F 351 f.).


Nusle: Südlicher Vorort von Prag.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at