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[Tagebuch, 5. Februar 1912; Montag]

5. II 12 Mo. Müde auch das Lesen von "Dichtung und Wahrheit" aufgegeben. Ich bin hart nach Außen, kalt im Innern. Als ich heute zu Dr. Fleischmann kam war es, trotzdem wir langsam und überlegt zusammenkamen, als wären wir wie Bälle zusammengestoßen, die einer den andern zurückwerfen und selbst ohne Beherrschung sich verlieren. Ich fragte ihn ob er müde wäre. Er war nicht müde. Warum ich fragte? Ich bin müde antwortete ich und setzte mich.

Aus einem solchen Zustand sich zu erheben, sollte eigentlich selbst mit gewollter Energie leicht sein. Ich reiße mich vom Sessel los, umlaufe den Tisch mit großen Schritten, mache Kopf und Hals beweglich, bringe Feuer in die Augen, spanne die Muskeln um sie herum. Arbeite jedem Gefühl entgegen, begrüße Löwy stürmisch, wenn er jetzt kommen wird, dulde freundlich meine Schwester im Zimmer, während ich schreibe, ziehe bei Max alles, was gesagt wird, trotz Schmerz und Mühe in langen Zügen in mich hinein. Nun ist es zwar möglich, dass mir einzelnes davon ziemlich vollständig gelingen würde, aber mit jedem deutlichen Fehler - und die können nicht ausbleiben - wird das Ganze, das Leichte und das Schwere, stocken und ich werde mich im Kreise zurückdrehn müssen. Der beste Rat bleibt deshalb, möglichst ruhig alles hinzunehmen, als schwere Masse sich verhalten und fühle man sich selbst fortgeblasen, keinen unnötigen Schritt sich ablocken lassen, den andern mit Tierblick anschauen, keine Reue fühlen, sich dem Bewußtlosen hingeben, das man ferne glaubt, trotzdem man sich daran gerade verbrennt, seine eckigen unveränderlichen Gliedmaßen sich nach Belieben legen lassen, kurz das was vom Leben als Gespenst noch übrig ist mit eigener Hand niederdrücken d. h. die letzte grabmäßige Ruhe noch vermehren und nichts außer ihr mehr bestehen lassen. Eine charakteristische Bewegung eines solchen Zustandes ist das Hinfahren des kleinen Fingers über die Augenbrauen.

Kleiner Ohnmachtsanfall gestern im Kafe City mit Löwy. Das Herabbeugen über ein Zeitungsblatt um ihn zu verbergen

Goethes schöne Silhouette in ganzer Gestalt. Nebeneindruck des Widerlichen beim Anblick dieses vollkommenen menschlichen Körpers, da ein Übersteigen dieser Stufe außerhalb der Vorstellbarkeit ist und diese Stufe doch nur zusammengesetzt und zufällig aussieht. Die aufrechte Haltung, die hängenden Arme, der schmale Hals, die Kniebeugung.

Die Ungeduld und Trauer wegen meiner Mattigkeit nährt sich besonders durch die niemals aus den Augen gelassene Aussicht in die Zukunft, die mir dadurch vorbereitet wird. Was für Abende, Spaziergänge, Verzweiflung im Bett und auf dem Kanapee,

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at