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[Reisetagebuch Weimar-Jungborn, 5. Juli 1912; Freitag]

Freitag 5 Juli (1912) Vergeblicher Gang zum Goethehaus. - Goethe-Schiller Archiv. Briefe von Lenz. - Brief der Frankfurter Bürger an Goethe 28 August 1830: "Einige Bürger der alten Maynstadt, seit langem hier gewöhnt, den 28. August mit dem Becher in der Faust zu begrüßen, würden die Gunst des Himmels preisen, könnten sie den seltenen Frankfurter, den dieser Tag gebracht, im Weichbild der Freistadt selbst willkommen heißen.

Weil es aber von Jahr zu Jahr bei Hoffen und Harren und Wünschen bleibt, so reichen sie einstweilen über Wälder und Fluren, Marken und Mauten den schimmernden Pokal nach der glücklichen Ilmstadt hinüber und bitten ihren verehrten Landsmann um die Gunst in Gedanken mit ihm anstoßen und singen zu dürfen:

Willst Du Absolution

Deinen Treuen geben

Wollen wir nach Deinem Wink

Unablässig streben

Uns vom Halben zu entwöhnen

und im Ganzen Guten Schönen

resolut zu leben."

1757 "Erhabene Großmama!..."

Jerusalem an Kestner: "Dürfte ich Ew. Wohlgeboren wohl zu einer vorhabenden Reise um Ihre Pistolen gehorsamst ersuchen?"

Lied der Mignon ohne einen Strich. -

Photographien geholt. Hingebracht. Nutzlos herumgestanden, nur 3 Photographien von den 6 abgegeben. Und gerade die schlechternin der Hoffnung, dass der Hausmeister um sich zu rechtfertigen, von neuem photographieren wird. Keine Spur. - Bad - Direkt von dort in die Erfurter Straße. Max zum Mittagmahl. Sie kommt mit 2 Freundinnen. Ich greife sie heraus. Ja sie mußte gestern 10 Min. früher weggehn, hat erst jetzt von ihren Freundinnen von meinem gestrigen Warten erfahren. Sie hatte auch Ärger wegen der Tanzstunden. Sie liebt mich sicher nicht, einigen Respekt aber hat sie. Ich gebe ihr die mit dem Herzchen und der Kette umwundene Chokoladenschachtel und begleite sie ein Stück. Paar Worte hin und her über ein Rendezvous. Morgen um 11 vor dem Goethehaus. Das kann nur eine Ausrede sein, sie muß ja kochen und dann vor dem Goethehaus, aber ich nehme es doch an. Traurige Annahme. Gehe ins Hotel, sitze ein Weilchen bei Max, der im Bett liegt. Nachmittag Ausflug nach Belvedere. Hiller und Mutter. Schöne Fahrt im Wagen durch eine einzige Allee. Überraschende Anordnung des Schlosses, das aus einem Hauptteil und 4 seitlich angeordneten Häuschen besteht, alles niedrig und zart gefärbt. Ein niedriger Springbrunnen in der Mitte. Blick vorwärts nach Weimar. Der Großherzog war schon seit einigen Jahren nicht hier. Er ist Jäger und hier ist keine Jagd. Der ruhige entgegenkommende Bediente mit glattrasiertem eckigen Gesicht, traurig wie vielleicht alles Volk, das sich unter Herrschaften bewegt. Trauer der Haustiere. Maria Pawlovna, Schwiegertochter des Großherzogs Karl August, Tochter der Maria Feodorowna und des Kaisers Paul, der erdrosselt wurde. Viel russisches. Cloisone Kupfergefäße mit aufgehämmerten Dräten, zwischen die das Email gegossen wird. Die Schlafzimmer mit Himmelskuppel. Photographien in den noch bewohnbaren Zimmern die einzige Modernisierung. Wie sie sich unbeobachtet auch einordnen werden! Zimmer Goethes, ein unteres Eckzimmer. Einige Deckenbilder Oesers, bis zur Unkenntlichkeit aufgefrischt. Viel Chinesisches. Das "dunkle Kammerfrauenzimmer". Das Naturteater mit den zwei Zuschauerreihen. Der aus mit den Lehnen aneinandergestellten Bänken bestehende Wagen, dos à dos, in dem die Damen saßen, während die begleitenden Kavaliere neben ihnen ritten. Der schwere Wagen, in dem Maria Pawlovna mit ihrem Mann in 26 Tagen dreispännig von Petersburg nach Weimar auf der Hochzeitsreise fuhr. Naturteater und Park von Goethe eingerichtet. - Abend zu Paul Ernst. Auf der Gasse 2 Mädchen nach der Wohnung des Schriftstellers P. E. gefragt. Sie schauen uns zuerst nachdenklich an, dann stößt eine die andere, als wolle sie sie an einen Namen erinnern, der ihr gerade nicht einfällt. Meinen Sie Wildenbruch? fragt uns dann die andere. - Paul Ernst. Über den Mund gehender Schnurrbart und Spitzbart. Hält sich am Sessel fest oder an den Knien, trotzdem er auch bei Erregung (wegen seiner Kritiker) nicht losgeht. - Wohnt am Horn. Eine Villa scheinbar ganz mit seiner Familie angefüllt. Eine Schüssel stark riechender Fische, welche die Treppe hinaufgetragen werden sollte, wird bei unserem Anblick wieder in die Küche zurückgebracht. - Eintritt des Pater Expeditus-Schmitt, mit dem ich schon einmal auf der Hoteltreppe zusammengestoßen bin. Arbeitet im Archiv an einer Otto Ludwig Ausgabe. Will Nargileh ins Archiv einführen. Schimpft eine Zeitung "fromme Giftkröte" weil sie die vom ihm herausgegebenen "Heiligenlegenden" angegriffen hat.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at