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An Felice Bauer

vom 29. zum 30.XII.12
 

Liebste, das war ein schlechter Sonntag. Wie in Ahnung seiner Unruhe lag ich früh endlos im Bett, trotzdem ich wegen der Fabrik, die mir (allerdings für die übrige Welt unsichtbar) Sorgen und Gewissensbisse macht, einen Weg hätte machen sollen. Durch dieses nutzlose Liegen (Dein Brief kam erst um 11) verschob sich dann alles andere, und als ich nach dem erst um ½3 angefangenen Essen den Brief an Dich anfing, glücklich ein wenig bei Dir bleiben zu können, ruhig in der infolge allgemeinen Mittagsschlafes ruhigen Wohnung, wurde ich angeläutet eben von jenem Dr. Weltsch, der nicht nur ein flüchtiger Bekannter, sondern mein rechtmäßiger Freund ist. Übrigens heißt er Felix, und ich bin froh, mit diesem Namen schon so lange in Freundschaft gestanden zu sein; jetzt hat sich freilich dieser Name noch ein wenig in den letzten Buchstaben aufgelöst und einen unglaublichen Inhalt angenommen. Dieser Felix also hat mich, als ich an Felice schrieb, angeläutet und mich an eine Vereinbarung erinnert, mit ihm, seiner Schwester und einer Freundin (der Schwester natürlich) spazierenzugehn, wie ich es auch letzten Donnerstag getan habe. Und trotzdem es mir am letzten Donnerstag nicht gefallen hat (ich habe zeitweise und meistens Angst vor Mädchen), und trotzdem ich erst am Anfang jenes mich festhaltenden Briefes war, und trotzdem ich auch eine Verabredung mit Max hatte und trotzdem ich mit Recht fürchtete, nach dem Spaziergang zum Schlaf nicht mehr die nötige Zeit zu haben - sagte ich doch sofort mit Feuereifer zu, denn vor dem Telephon, und selbst wenn es nur ein Haustelephon ist, bin ich hilflos, und dann wollte ich doch die Mädchen nicht warten lassen. Aber als ich herunterkam, ärgerlich vor lauter Bedenken, und vor Menschen statt vor dem schrecklichen Telephon stand und überdies außer den dreien noch ein Mädchen und einen jungen Mann antraf, entschloß ich mich rasch, begleitete sie nur bis zur Brücke und verabschiedete mich, wobei ich den Verkehr beim Brückenmauthäuschen störte und einer Frau hinter mir auf den Fuß trat. Dann lief ich befreit zu Max. Aber nun erzähle ich diesen Sonntag nicht mehr weiter, denn es strebt eben dem traurigen Ende zu, dass ich heute nichts mehr schreiben kann, da schon längst 11 Uhr vorüber ist und da ich in meinem Kopf Spannungen und Zuckungen habe, wie ich sie an mir eigentlich erst seit einer Woche kenne. Nicht schreiben und dabei Lust, Lust, eine schreiende Lust zum Schreiben in sich haben!

Ich weiß jetzt übrigens auch genauer, warum mich der gestrige Brief so eifersüchtig gemacht hat: Dir gefällt mein Buch [Betrachtung] ebensowenig wie Dir damals mein Bild gefallen hat. Das wäre ja nicht so arg, denn was dort steht, sind zum größten Teil alte Sachen, aber immerhin doch noch immer ein Stück von mir und also ein Dir fremdes Stück von mir. Aber das wäre gar nicht arg, ich fühle Deine Nähe so stark in allem übrigen, dass ich gern bereit bin, wenn ich Dich eng neben mir habe, das kleine Buch zuerst mit meinem Fuße wegzustoßen. Wenn Du mich in der Gegenwart lieb hast, mag die Vergangenheit bleiben, wo sie will, und wenn es sein muß, so ferne wie die Angst um die Zukunft. Aber dass Du es mir nicht sagst, dass Du mir nicht mit zwei Worten sagst, dass es Dir nicht gefällt. - Du müßtest ja nicht sagen, dass es Dir nicht gefällt (das wäre ja wahrscheinlich auch nicht die Wahrheit), sondern dass Du Dich bloß darin nicht zurechtfindest. Es ist ja wirklich eine heillose Unordnung darin oder vielmehr: es sind Lichtblicke in eine unendliche Verwirrung hinein und man muß schon sehr nahe herantreten, um etwas zu sehn. Es wäre also nur sehr begreiflich, wenn Du mit dem Buch nichts anzufangen wüßtest, und die Hoffnung bliebe ja, dass es Dich in einer guten und schwachen Stunde doch noch verlockt. Es wird ja niemand etwas damit anzufangen wissen, das ist und war mir klar, - das Opfer an Mühe und Geld, das mir der verschwenderische Verleger gebracht hat und das ganz und gar verloren ist, quält mich ja auch, - die Herausgabe ergab sich ganz zufällig, vielleicht erzähle ich Dir das einmal bei Gelegenheit, mit Absicht hätte ich nie daran gedacht. Aber das alles sage ich nur, um Dir klar zu machen, wie selbstverständlich mir eine unsichere Beurteilung von Deiner Seite erschienen wäre. Aber Du sagtest nichts, kündigtest zwar einmal an, etwas zu sagen, sagtest es aber nicht. Es ist ganz so wie mit dem Neble, auch von dem durfte ich so lange nichts erfahren. Liebste, schau, ich will Dich doch mit allem mir zugewendet wissen, nichts, nicht das geringste soll beiseite gesprochen werden, wir gehören doch - dächte ich - zusammen, eine Dir liebe Bluse wird mir vielleicht an sich nicht gefallen, aber da Du sie trägst, wird sie mir gefallen, mein Buch gefällt Dir an sich nicht, aber insoferne, als es von mir ist, hast Du es sicher gerne - nun dann sagt man es aber doch, und zwar beides.

Liebste, Du bist mir gewiß wegen dieser großen Ansprache nicht böse, Du bist doch selbst die Klarheit von uns zweien und es scheint mir, als hätte ich, was ich an Klarheit besitze, an jenem Augustabend aus Deinen Augen gelernt. Allzuviel habe ich ja nicht gelernt, das kannst Du aus dem Traum sehn, den ich gestern hatte.

Nein, den beschreibe ich nicht mehr, denn jetzt fällt mir ein, dass Du Liebste leidest, wenigstens am Freitag abend gelitten hast. Das ist es also, was Dich zuhause quält? Auch davon hatte ich bisher keine Ahnung, aber da liegt wohl die Schuld an meiner Begriffsstützigkeit. Wenn Du in solche Dinge noch hineingezogen wirst, liebstes, armes Kind, das ist schrecklich. So ist es bei mir nicht, meine Mutter ist die liebende Sklavin meines Vaters und der Vater ihr liebender Tyrann, darum ist im Grunde die Eintracht immer vollkommen gewesen und das Leid, das wir alle gemeinsam gar in den letzten Jahren hatten und das in seiner Gänze auf den leidenden Zustand des Vaters zurückgeht, der an Arterienverkalkung leidet, konnte infolge dieser Eintracht ins Innerste der Familie nicht eigentlich dringen.

Gerade dreht sich der Vater nebenan gewaltig in seinem Bett. Er ist ein großer, starker Mann, in der letzten Zeit fühlt er sich glücklicherweise wohler, aber sein Leiden ist eben ein immer drohendes. Die Eintracht der Familie wird eigentlich nur durch mich gestört und mit den fortschreitenden Jahren immer ärger, ich weiß mir sehr oft keine Hilfe und fühle mich sehr tief in Schuld bei meinen Eltern und bei allen. Und so leide auch ich, mein liebstes fernes Mädchen, genug innerhalb der Familie und durch sie, nur dass ich es mehr verdiene als Du. In frühern Jahren stand ich mehr als einmal in der Nacht beim Fenster und spielte mit der Klinke, es schien mir sehr verdienstlich, das Fenster aufzumachen und mich hinauszuwerfen.

Das ist aber lange vorüber und ein so sicherer Mensch, wie ich es heute durch die Gewißheit Deiner Liebe bin, war ich noch nie.

Gute Nacht, Liebste, auch traurige Küsse tun wohl und vor Trauer bleibt der Mund endlos lange auf dem andern und will sich gar nicht losreißen.

Franz


Liebste, nochmals: Ich schreibe regelrecht nur einmal täglich, meine fahrigen Briefe während des Tages machen mich unglücklich und das Gefühl, dass Du um 10 Uhr einmal nutzlos einen Brief erwarten könntest, brennt mich aus. Also keinen Brief erwarten, Liebste, keine traurigen Blicke der Brühl auffangen, der ich übrigens gerne danken würde, nur weiß ich nicht wie.

Bist Du Neujahr im Bureau? Mir schreibe bitte nach Hause. Ich werde Dir auch nachhause schreiben.


[Am Rande] Was bedeutet der Scherz mit dem Berl. Tageblatt? Was hattest Du mir denn zu vergeben? Genaue Antwort!




Brückenmauthäuschen: Für das Überschreiten der Prager Brücken (mit Ausnahme der Karlsbrücke) wurde bis ins Jahr 1918 ein Zoll (Maut) erhoben. Vgl. Wagenbach, Biographie, S. 67f. und Richard Katz, "Prager Brückengeld", Vossische Zeitung, 5. Januar 1921, S. 2-3.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at