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[An Felice Bauer]
[Prag, 25. Dezember 1912; Mittwoch]

Mittwoch, 25.XII.12, 3 Uhr nachm.


Nicht um Dir zu schreiben, schreibe ich Dir jetzt, Liebste, diese paar Worte, Du bekommst sie ja sowieso gleichzeitig mit einem spätern, ausführlicheren Brief; aber um die Verbindung mit Dir neu zu fühlen, um für diese Verbindung etwas Tatsächliches getan zu haben, deshalb schreibe ich. Die ganze Weihnachtspost habe ich dem Briefträger erschüttert, als ich meine Post ihm wütend abverlangte; ich war schon auf der Treppe, ich wollte weggehn, alle Hoffnung war schon aufgegeben, es war ja schon 12¼ Uhr mittags. Endlich, endlich herrliche Post, Anfang der Weihnachtsfeiertage, zwei Briefe, eine Karte, ein Bild, Blumen. Liebste, ganz wild abzuküssende Liebste, wie soll ich Dir danken mit dieser schwachen Hand!
So, jetzt gehe ich spazieren mit einem Freund, von dem ich dir vielleicht noch gar
[nichts] geschrieben habe, - Weltsch. Ich muß auch weg, denn eben sind Verwandte mit äußerst durchdringenden Stimmen angekommen, die Wohnung bebt, ich entweiche ungesehen, ungehört durch das Vorzimmer. Wäre es doch mit Dir! Ich würde Dir zuliebe sogar meinen Lauf über die Treppen mäßigen. Ich habe nämlich die Gewohnheit - es ist der einzige übrigens selbsterfundene Sport, den ich treibe - die Treppen als ein Schrecken aller Hinaufsteigenden hinunterzurasen. Es ist schönes Wetter draußen, möchtest Du Dich, Liebste, recht erholen, jeder Augenblick dieser Weihnachtstage freut mich doppelt, wenn ich daran denke, dass Du Dich ausruhn und erholen kannst. Also nicht schreiben, wohl aber telegraphieren, wenn's möglich ist. Dieses allabendliche Auslöschen, das Deine Mutter betreibt, ist ja sehr in meinem Sinn, wenn sie das wüßte, ließe sie wahrscheinlich das Licht unausgelöscht, allerdings wäre auch das wieder in meinem Sinn.

Franz

Du hast doch die 2 Briefe, die ich in die Wohnung geschickt habe, ausgefolgt erhalten? Es waren, scheint mir, Briefe, die ganz besonders wenig zum Lesen für andere bestimmt waren.


Weltsch: Felix Weltsch, 1884 - 1964. Philosoph, Publizist und Universitätsbibliothekar. Autor von "Gnade und Freiheit", "Das Wagnis der Mitte" und (gemeinsam mit Max Brod) "Anschauung und Begriff".
Hinunterzurasen: Vgl. die Erzählung "Das Urteil": "Auf der Treppe, über deren Stufen er wie über eine schiefe Fläche eilte, überrumpelte er seine Bedienerin, die im Begriffe war heraufzugehen, um die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen. 'Jesus!' rief sie und verdeckte mit der Schürze das Gesicht."

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at