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[An Felice Bauer]
[Prag, 13. Dezember 1912; Freitag]

Nacht vom 13. zum 14.XII.12

Liebste, seit ein paar Tagen ist Dein Junge wieder einmal müde und traurig, daß man mit ihm gar nicht verkehren kann. Das wären die Zeiten, wo er noch dringender als sonst einen lieben, entschlossenen, lebendigen Menschen neben sich brauchen würde. Oder vielleicht wären das gerade die Zeiten, wo er einen solchen Menschen nicht zu seiner Gesellschaft mißbrauchen dürfte und wo es sogar für ihn am besten ist, ganz allein zu duseln. Mein Roman geht ja wenn auch langsam vorwärts, nur ist sein Gesicht dem meinen schrecklich gleich. - Ehe ich Dich kannte, hatte ich ja auch diese unberechenbaren Zeiten, nur schien mir damals die Welt gänzlich verlorenzugehn, mein Leben schien unterbrochen, ich tauchte auf und tief hinab, jetzt habe ich Dich, meine Liebste, fühle mich wohltätig gehalten, und wenn ich auch zusammenfalle, so weiß ich doch, daß es nicht für immer ist, glaube es wenigstens zu wissen und kann Dich und mich auf bessere Zeiten vertrösten. Liebste, sei mir nicht böse wegen dieses Morgengrußes am Sonntag!
Ja also bei der Auslegung des Bildes habe ich mich nicht sehr ausgezeichnet. Deine Tänzerin hielt ich allerdings (nach dem Bildchen in Euerem Album) für das Frl. Brühl. Nur habe ich doch, glaube ich, in meinem Brief auch das Mädchen unter dem Telegramm ganz zufällig erwähnt oder wollte sie erwähnen. Das ist also Deine Kleine! Sie hat mir gleich sehr gut gefallen. Die Bildung ihrer Nase kommt mir auf dem Bild ganz französisch vor. Sie hat einen lustigen Blick. Frl. Großmann sieht ihr gegenüber ein wenig hausbacken aus. Aber den Vorzug der Beziehung zu Dir haben beide, und so habe ich an ihnen auch gar nichts auszusetzen, es müßte denn sein, daß sie Dich jeden Tag haben und ich Dich keinen.
Was wurde denn an jenem Abend aufgeführt außer Deinem Tanz? Spieltest Du nicht auch noch in einem Stücke mit? Und dieser junge Mann ist schon Direktor? Und der ältere nur Prokurist? Da ich diesen Direktor für viel älter gehalten habe, muß ich alles, was Du mir über den Abend schriebst, in der Erinnerung nochmals durchgehn, um an den wichtigen Stellen das Alter und Aussehn dieses Herrn richtigzustellen.
Ich bin so glücklich, mein Buch, soviel ich daran auch auszusetzen habe (nur die Kürze ist tadellos) in Deiner lieben Hand zu wissen. Frl. Brühl hat recht, Monogramme lassen sich unheimlich schön auslegen. Wahr ist auch, daß ich, wenn Du Dich vielleicht erinnerst, das Monogramm in Deiner Gegenwart, unter Deinen Blicken aufgeschrieben habe, während ich doch recht gut Max Brod hätte ausschreiben können, denn weder sein Name, noch die Freundschaft und Liebe, die mich mit ihm verbindet, muß ein Geheimnis sein; wahr ist schließlich auch, daß B. der Anfangsbuchstabe von Bauer ist. Aber ich schwätze unglückselig daher. Es ist dringend nötig, mir mit Küssen den Mund zu schließen.

Dein Franz


Buch: "Betrachtung", Franz Kafkas erste Buchveröffentlichung.
Monogramm: "Betrachtung" trägt die Widmung "Für M. B."

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at